Einen spirituellen Lehrer finden

Unterschiedliche Umstände

Unsere Situation heutzutage als Buddhisten im Westen ist wirklich sehr verschieden von der klassischen Situation in Tibet. Zuerst einmal sind die meisten von uns nicht ordiniert; wir sind keine Mönche oder Nonnen. In Tibet und in traditionell buddhistischen Gesellschaften wurde man Mönch oder Nonne, falls man wirklich ein buddhistisches Training durchlaufen wollte. Haushälter hingegen hatten nicht so viel Zugang zu Unterweisungen. Die meisten waren Analphabeten und konnten die Texte nicht wirklich lesen. Sie gingen zwar hin und wieder zu Lehrvorträgen und so weiter, aber sie hatten nicht das detaillierte Training, dass einem Ordinierten zur Verfügung stand.

Tatsächlich ist es ein sehr neues Phänomen, dass Meditation auch für Haushälter unterrichtet wird. Das begann eigentlich in Burma – ich glaube es war Anfang des 20. Jahrhunderts, ich denke, dass es nicht bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht. Und in der tibetischen Tradition wurden Haushälter im Allgemeinen auch nicht in Meditation unterwiesen. Abgesehen davon, dass sie an einigen Unterweisungen teilnahmen, haben Haushälter im Wesentlichen Mantras rezitiert, ein paar Gebete auswendig gelernt, Stupas umrundet, Butterlampen geopfert und ähnliches.

Heute ist die Situation im Westen wirklich ganz anders. Nicht nur, dass der Großteil westlicher Studierender nicht ordiniert ist, sondern in unserem Leben gibt es zusätzlich so viele andere Aspekte und Tätigkeiten. Das wichtigste Augenmerk für uns als Ordinierte wäre das Studium und die Praxis des Dharmas, sowie die Rituale und das wäre unsere Hauptbeschäftigung. Außerdem verfügen wir hier im Westen bereits über Bildung. Wir kommen nicht als ungebildete Kinder zum Dharma. Für die meisten von uns gilt, dass wir keinen engen Kontakt mit den großen spirituellen Meistern haben; ganz zu schweigen davon, dass wir, wie viele junge Novizen in tibetischen Klöstern, mit ihnen zusammen leben. Auch ist es meist so, dass wir für Unterweisungen bezahlen müssen, weil wir nicht in einer Gesellschaft leben, welche die gesamte buddhistische Institution mitsamt ihren Klöstern durch Opfergaben usw. unterstützt. Und dann muss noch die Miete bezahlt werden, wir brauchen eine Krankenversicherung, Geld für Nahrungsmittel usw. Also ist unsere Situation natürlich eine andere.

Die meisten von uns haben nur sehr begrenzt Kontakt mit den zeitgenössischen großen Meistern. Vielleicht hatten wir ein paar Mal das Glück, an einer großen Belehrung Seiner Heiligkeit des Dalai Lamas teilzunehmen. Oder es kommen gelegentlich einige große Meister in unsere Stadt und wir gehen zusammen mit vielen anderen zu einer Belehrung. Die meiste Zeit stehen uns in unserer Stadt jedoch nur sehr viel weniger erfahrene und qualifizierte Lehrer zur Verfügung; vielleicht ein tibetischer Geshe, ein Khenpo, ein gebildeter Mönch oder eine gelehrte Nonne. Manchmal haben wir nicht einmal das, sondern lediglich Buddhisten, die schon länger dabei sind und Diskussionsrunden anleiten.

Verschiedene Ebenen von Lehrern

Es bringt nichts, sich darüber zu beklagen. Das ist die Realität unserer Situation. Die Herausforderung ist, das Beste daraus zu machen. Deshalb ist es wichtig, auf unserer spirituellen Reise, die verschiedenen Ebenen von Lehrern für uns zu erkennen und anzunehmen. Die meisten von uns haben nicht die Möglichkeit, all ihre Zeit der buddhistischen Praxis zu widmen. Wir haben Familien, wir müssen über die Runden kommen usw. Es ist notwendig da realistisch zu sein.

Wenn wir eine realistische Haltung haben, dann hilft uns dies, nicht enttäuscht zu sein, wenn unser örtlicher Lehrer nicht unbedingt die Qualität von etwa seiner Heiligkeit dem Dalai Lama besitzt. Und selbst wenn wir ständig mit Seiner Heiligkeit zusammen wären und private Unterweisungen von ihm bekämen, dann wäre dies jenseits unseres Horizonts. Weil es sich um eine fortgeschrittene Ebene handelt, könnten wir ihm nicht wirklich folgen und den größtmöglichen Nutzen aus seiner Führung ziehen.

Video: Dr. Alexander Berzin — „Spiritueller Lehrer versus Therapeut“ 
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Ich erinnere mich, als ich das erste Mal nach Indien ging, es war 1969. Ich hatte bereits in Harvard meinen Doktor gemacht und verschiedene asiatische Sprachen, einschließlich Tibetisch und Sanskrit, studiert. Der Buddhismus wurde dort jedoch im Grunde als eine Art Wissenschaft gelehrt,  als etwas Ausgestorbenes. Wir lernten nur, wie man Tibetisch liest; der Professor wusste nicht einmal, wie die Sprache ausgesprochen wurde. Erst in Indien begann ich mit qualifizierten Lehrern die Sprache und Grundlagen des Dharmas zu studieren.

Als ich zum ersten Mal die großen Lehrer, Seine Heiligkeit und den Lehrer Seiner Heiligkeit traf, nahm ich die beiden so wahr, als seien sie schnell galoppierende Pferde. Auf gar keinen Fall konnte ich zu dieser Zeit auf eines dieser Pferde aufspringen. Sie sprachen zu schnell in einer Sprache, die ich nicht so recht verstehen konnte und das, worüber sie sprachen, war für mich viel zu weit und fortgeschritten. Jedoch hatte ich den festen Vorsatz, diese Pferde reiten zu können und durch Training auf diese Ebene zu gelangen, auf der ich sie verstehen würde und Nutzen aus dem Reiten auf solch unglaublichen Vollblütern ziehen könnte.

Wenn man bloß Karussell fährt, braucht man keinen Vollblüter, dann tut es auch ein Holzpferd. Also arbeiten wir zuerst mit unseren Lehrern vor Ort und natürlich muss die Beziehung zu so einem Lehrer respektvoll sein. Aber es ist nicht ganz dasselbe wie die Beziehung zu den großen Meistern, die wir vielleicht nur ein paar Mal in unserem Leben treffen. Es ist möglich, dass unsere lokalen Lehrer nicht so inspirierend für uns sind; aber nichtsdestotrotz können wir von ihnen einen Menge lernen; sie können uns helfen zu lernen.

In Bezug auf die großen Meister unserer Zeit ist es sehr wichtig, jemanden zu haben, der uns wirklich inspiriert – selbst wenn wir dieser Person nicht so oft begegnen. So jemand muss nicht die ganze Zeit bei uns sein, weil er vielleicht, wie ich bereits sagte, zu schnell für uns ist und wir nicht mit ihm mithalten könnten. Außerdem ist es wirklich sehr wichtig zu betonen, dass die Beziehung zu dem spirituellen Lehrer nicht wie eine Beziehung zu jemandem in der Armee ist. Wir sagen nicht: „Jawohl!“ und gehorchen, egal um was es geht. Es ist notwendig, den Lehrer gut zu prüfen, bevor wir uns ihm anvertrauen und uns führen lassen, auch wenn es aus der Ferne ist. Vorher können wir natürlich zu seinen Unterweisungen und Vorlesungen gehen, aber es ist etwas ganz anderes, diese Verpflichtung einzugehen.

Ein Schüler werden

In der tibetischen Tradition ist es eher nicht so, dass ein Schüler tatsächlich einen Lehrer fragen würde: „Kann ich dein Schüler sein?“, und der Lehrer den Schüler dann herzlich aufnimmt und umarmt, und ihn so als Schüler akzeptiert. Das ist nur eine Art romantische Vorstellung. Selbst wenn es eine Art gegenseitiges Wiedererkennen aus einem vorherigen Leben gibt, wird kein großes Aufhebens deswegen gemacht.

Ein gutes Beispiel ist meine Erfahrung mit Tsenshap Serkong Rinpoche, meinem wichtigsten Lehrer, bei dem ich gelernt habe. Ich hatte ihn schon ein paar Mal zuvor getroffen, aber als ich dann nach Dharamsala zog und ihn dort wiedertraf und mit ihm sprach, sagte er zu mir: „Naja, bleib einfach hier auf dieser Seite des Zimmers und beobachte die Art und Weise, wie ich mit den Leuten umgehe.“ Es war einfach total natürlich, keine große Sache. „Da bist du also. Wo solltest du sonst sein!“ Und dann begann er einfach, mich zu unterrichten. Auch zu der jungen Reinkarnation von Serkong Rinpoche habe ich eine sehr enge Bindung. Ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal für ihn übersetzte während er eine private Unterweisung gab. Ich sagte: „Wie wunderbar, dass ich wieder für dich übersetzen kann.“ Er antwortete, wie er dies am liebsten tut: „Naja, nichts Besonderes. Natürlich übersetzt du wieder für mich. Was erwartest du denn?“ Es wird also keine große Sache aus irgendetwas gemacht. Das ist eine sehr hilfreiche Einstellung; ansonsten würden wir alles nur dramatisieren, uns selbst, den Guru und alles wäre ein einziger großer Egotrip.

Einen Wurzellehrer finden

Eine tiefe Beziehung zu einem Lehrer aufzubauen ist so ähnlich wie das, was Tsongkhapa als die Bedingungen für die Entwicklung von Bodhichitta beschreibt. Er sagt, dass es einige Menschen gibt, die sehr starke Veranlagungen zu Bodhichitta haben und sich natürlicherweise zu dieser Art von Meditation und des Wünschens hingezogen fühlen. Und dann gibt es andere, die große Anstrengungen in diesem Leben unternehmen müssen, um diesen Wunsch zu entwickeln. Und er sagt, dass für diejenigen mit dieser gewissen Veranlagung die Entwicklung von Bodhicitta einfacher sein wird, stabiler. Das heißt aber nicht, dass wir Bodhicitta nicht entwickeln können, wenn wir diesen instinktiven Drang nicht haben, doch es wird schwieriger sein.

Das können wir auch in Bezug darauf sehen, einen spirituellen Lehrer, einen sogenannten „Wurzel-Guru“, zu finden, dessen Inspiration für uns ein Anker ist, der unser spirituelles Wachstum fördert. Es wird einige von uns geben, die sich natürlicherweise zu einem Lehrer hingezogen fühlen, und das ist ein sehr wichtiges Anzeichen, nach dem man Ausschau halten muss. Die Wahl des spirituellen Lehrers sollte jedoch nicht einfach deswegen erfolgen, weil er nun einmal gerade der Lehrer unseres Dharmazentrums ist, oder weil er der Leiter oder Gründer des Dharmazentrums oder der Organisation ist, die man besucht. Auch sollte sich die Wahl nicht nach Berühmtheit und Charisma richten – das ganze Drumherum einiger solcher Lehrer.

Es gibt keinen Grund, warum jeder im Dharmazentrum mit dem Gründer oder den lokalen Lehrern verbunden sein sollte. Wenn er der Einzige ist, den es in unserer Stadt gibt, oder unter allen anderen der Beste für uns, dann ist das in Ordnung. Wir können Nutzen daraus ziehen, zum Dharmazentrum zu kommen und bei solchen Lehrern zu lernen. Aber trotzdem sollten wir die Augen dafür offen halten, wer unser Wurzel-Lehrer sein könnte, wer uns am meisten inspiriert.

Wie weiß man, dass man einen instinktiven Draht zu jemandem hat? Ein Anzeichen ist, dass man irgendwohin kommt, wo die Person auch gerade ist und das passiert dann immer wieder. Wenn wir ohne Vorankündigung zu der Person gehen, ist sie da; sie ist nicht gerade weg. Andere Indizien sind, dass sie fast wie ein Magnet für uns ist: Man kann die Augen nicht von dieser Person lassen. Und das läßt sich nicht vergleichen mit sehnsüchtigem Verlangen oder lustvollen Gefühlen gegenüber einem schönen Menschen. Das ist etwas völlig anderes. Es ist keine beunruhigende oder verstörende Erfahrung. Diese Person zu sehen gibt uns ein Gefühl der Ruhe, des Wohlbefindens, der Leichtigkeit, der gelassenen Freude. Es ist keine übermäßige Erregung, sondern fühlt sich einfach richtig an.

Wir alle wissen, wie es ist, wenn wir uns ein paar Schuhe kaufen gehen. Wir probieren verschiedene Modelle an, laufen ein Stück in ihnen und dann gibt es dieses eine Paar, dass sich einfach richtig anfühlt. Sie sind bequem. Es ist dieses Gefühl mit der Beziehung zum spirituellen Lehrer – es fühlt sich einfach richtig an, es passt. Aber, genau wie beim Bodhicitta, kann es sein, dass es niemanden gibt, zu dem wir diese starke, instinktive Verbindung aus einem vorangegangenen Leben haben. Dann müssen wir uns wirklich sehr bemühen, eine Beziehung zu dem qualifiziertesten Lehrer aufzubauen, der verfügbar ist, egal wie inspirierend wir ihn finden. Und wie machen wir das? Indem wir sehr ernsthaft und aufrichtig suchen, und wirklich den Wunsch haben zu lernen, wie wir praktizieren und uns selbst transformieren können.

Ich erinnere mich , als ich 1969 nach Indien ging und Seine Heiligkeit den Dalai Lama zum ersten Mal traf. Das war nur zehn Jahre, nachdem die Tibeter aus ihrem Land fliehen mussten und, im Gegensatz zu heute, war es damals viel einfacher, Seine Heiligkeit und seine Lehrer zu treffen und tatsächlich Austausch mit ihnen zu haben. Es berührte mich sehr, als ich begriff, dass alles, was ich an der Universität über den tibetischen Buddhismus gelernt hatte, als wäre er, wie in der Ägyptologie, bereits ausgestorben, tatsächlich lebendig und real war. Es gab da jemanden, der tatsächlich wusste, was alles bedeutete und der dies verkörperte. Es war wie eine Offenbarung, die mein Leben veränderte. Als ich Seine Heiligkeit das zweite oder dritte Mal traf, sagte ich zu ihm ganz direkt: „Ich gebe mich Ihnen hin. Ich habe viele Mängel, aber bitte geben Sie mir die Möglichkeit, eine Ausbildung zu bekommen und dann werde ich Ihnen für den Rest meines Lebens dienen und versuchen, Ihre Arbeit voranzutreiben.“ Es war mir damit sehr ernst. Und Seine Heiligkeit gab mir die Möglichkeit, in Indien zu bleiben und das bestmögliche Training zu bekommen.

Nachdem ich mehr und mehr Zeit mit Serkong Rinpoche verbrachte, sagte ich zu ihm: „Bitte trainiere mich wie einen Esel, damit aus mir ein Mensch wird!“ Mein Werdegang war der eines super-intelligenten Studenten der Harvard University und so war ich sehr arrogant und kaum fähig zu sozialem Austausch. Ich muss zugeben, dass es in dieser Hinsicht wirklich furchtbar mit mir war; ich war unglaublich eingebildet und ich musste lernen, wie man mit anderen umgeht. Deshalb habe ich Serkong Rinpoche gebeten, es mir beizubringen. Meistens hat er mich dann beschimpft und einen Idioten genannt, wenn ich mich so benahm. In den neun Jahren, in denen ich ihm als Übersetzer gedient und alle Arrangierungen für seine Auslandsreisen getroffen habe, hat er sich nur zweimal bei mir dafür bedankt. Das war sehr hilfreich für mich. Er sagte immer: „Du denkst du bist so clever? Aber das bist du nicht.” Und er versäumte es niemals, mich darauf hinzuweisen, wenn ich etwas Dummes sagte oder tat, besonders gern vor vielen anderen. Und ich, von meiner Seite, bin nie wütend auf ihn geworden, weil ich erkannt hatte, dass es seine Art war, mir etwas beizubringen. All diese Zeit und Energie, mit solch immenser Güte, für mich zu investieren, konnte ich sehr wertschätzen.

Es ist nicht nur so, dass man sehr mutig und emotional stark sein muss, um diese Art von Training durchzustehen. Um sich zu ändern ist es notwendig, selbst Bemühung hineinzustecken. Selbst wenn eine gewisse instinktive, karmische Verbindung aus einem vergangenen Leben bestehen mag, reicht es nicht, passiv zu sein. Wenn wir um die Möglichkeit bitten, diese Ausbildung zu bekommen, müssen wir ihm folgen und dürfen uns nicht beschweren oder wütend werden. Auf diese Weise können wir eine echte Beziehung aufbauen. In den traditionellen buddhistischen Texten wird auch davon gesprochen, dem Lehrer zu helfen. Wenn wir eine enge Beziehung aufbauen wollen, ist es notwendig, unsere Hilfe anzubieten. Wir können lernen, als Übersetzer des Lehrers tätig zu sein, seine Unterweisungen zu transkribieren oder seine Reisen zu organisieren. Auf diese Art kommt man dem Lehrer näher. Wir müssen etwas unternehmen. Wir können nicht erwarten, einfach im Publikum zu sitzen und dann sieht uns der Lehrer, kommt zu uns und heißt uns willkommen.

Man muss vollkommen aufrichtig sein. Wir müssen uns selbst prüfen, ob wir stark genug sind, um, wie es heißt, die Beziehung zum spirituellen Lehrer zu verkraften. Oder, um noch einmal das Beispiel von vorhin zu gebrauchen: Sind wir stark genug, um auf diesem schnell galoppierenden Pferd zu reiten?

Tu es einfach!

Zusammenfassend kann man sagen, dass es nicht viel hilft, sich zu beschweren, wenn wir keinen Zugang zu diesen großartigen spirituellen Lehrern haben. Das wird uns nirgendwo hinbringen. Wenn wir wirklich Fortschritte machen wollen, sollten wir uns dafür bemühen. Schauen wir uns nur einmal an, was all diese großartigen Meister durchgegangen sind, wie sie von Tibet nach Indien gelaufen sind, um mit den indischen Meistern zu studieren, ihre Sprachen zu lernen usw. Wir haben großes Glück, dass wir dies nicht machen müssen.

Wenn ich mir die Situation des Buddhismus und der Tibetologie anschaue, verglichen mit der vor 50 Jahren, als ich damit begann, dann ist es jetzt sehr viel einfacher. Nur als ein Beispiel: Es gab damals kaum Hilfsmittel, um die tibetische Sprache und deren Aussprache zu lernen. Es gab nur ein Buch, in dem versucht wurde, die tibetische Grammatik in lateinischen Begriffen zu erklären, was absolut keinen Sinn macht. Als ich nach Indien ging, musste ich die Klangstruktur der Sprache verstehen lernen und es gab kaum etwas Übersetztes. Und wie viel ist heutzutage erhältlich! Da gibt es tatsächlich ein neues Problem; wir beschweren uns, dass es zu viel gibt und wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen. Es gibt also keinen Grund, sich zu beschweren und traurig darüber zu sein, an einem abgelegenen Ort zu leben. Heute sind wir hier in Moskau auf diesem Vortrag. Es ist also ganz klar, dass Moskau kein so düsterer Ort für den Buddhismus mehr ist, wie einst. Es kommen mittlerweile sehr viel mehr Lehrer hierher, als damals, gegen Ende der Sowjetzeit, als ich begann hierher zu kommen. Also los! Wenn wir es wollen, wenn es uns wirklich ernst ist, dann sollten wir es einfach tun. Wenn wir es tatsächlich ernst meinen, dann werden die Lehrer uns auch ernst nehmen.

Video: Dr. Alexander Berzin — „Spirituelle Lehrer und unser persönliches Leben“ 
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Fragen

Die Qualitäten eines spirituellen Lehrers

Sie haben erwähnt, dass es mehrere Ebenen von spirituellen Lehrern gibt. Nach welchen Eigenschaften sollten wir Ausschau halten, wenn wir einen Lehrer suchen?

Ja, es gibt viele Ebenen von spirituellen Lehrern und unterschiedliche Listen mit Qualifikationen. Für jede nachfolgende Ebene benötigt der Lehrer weitere Qualifikationen, zusätzlich zu denen der vorherigen Ebene. Die wichtigsten sind:

  • ethische Disziplin
  • ein gutes Maß an Konzentration
  • störende Emotionen sind zum großen Teil überwunden
  • großer Enthusiasmus und Freude am Unterrichten
  • mehr Wissen und Erfahrung in der Dharmapraxis, als bei uns
  • als einzige Motivation den ernsthaften Wunsch zu haben, Schülern mit liebevoller Güte, Mitgefühl usw. zu helfen
  • Aufrichtigkeit und Fehlen jeglicher Heuchelei; niemals vorzugeben, Qualitäten zu besitzen, die man nicht hat

Und es heißt in vielen Texten, dass es extrem selten ist, einen Lehrer zu finden, der all diese Qualitäten besitzt. Aber die Person sollte zumindest einige dieser Eigenschaften haben, und mehr positive, als negative. Am wichtigsten ist es, ein ethischer Mensch zu sein, die ernsthafte Motivation zu haben, anderen helfen zu wollen, mehr Wissen und Erfahrung zu haben, als wir selbst, und ehrlich zu sein. Das ist wirklich am allerwichtigsten, und auch, dass sie keine Heuchler sind.

Einen potenziellen Lehrer prüfen

Eine der spirituellen Qualitäten, die wir in einem spirituellen Lehrer suchen, ist eine korrekte Motivation: Bodhichitta. Aber wie stellen wir fest, ob eine Person Bodhichitta besitzt, wenn wir es selbst noch nicht entwickelt haben?

Betrachten wir die Qualifikationen, dann erscheint in der Liste der Begriff der liebevollen Güte (brtse-ba). Bodhichitta erscheint nicht als Begriff auf der Liste, die allgemein für einen Lehrer gilt, der Gelübde erteilt, denn sie muss sowohl für Hinayana- und Mahayana-Lehrer Gültigkeit haben. In der Liste der Qualifikationen eines Mahayana-Lehrers, desjenigen der die Bodhisattva-Gelübde gibt, steht natürlich, dass er Bodhichitta haben muss.

Und wie wissen wir um diese Qualitäten, wenn wir sie selbst noch nicht erreicht haben? Die Analogie, die hier benutzt wird, ist die eines Fisches tief im Wasser. Vielleicht sieht man ihn nicht, aber man kann seine Gegenwart anhand der kleinen Wellen an der Wasseroberfläche ausmachen. Im Bezug auf liebevolle Güte heißt das: Ist der Lehrer wirklich an allen Schülern interessiert, nicht nur an jenen, die viel Geld haben, sondern besonders auch an den armen und gewöhnlichen? Ist er auch um ihr Wohl besorgt, oder nutzt er sie nur aus, um an Geld, Ruhm und sexuelle Gefälligkeiten usw. zu kommen? Und woran arbeitet er in Bezug auf Bodhichitta? Arbeitet er daran, selbst ein Buddha zu werden? Geht er weiterhin zu Unterweisungen? Macht er weiterhin Meditations-Retreats? Oder versucht er nur, der größte, berühmteste Lehrer zu werden, mit dem größten Imperium? Arbeitet er wirklich daran, anderen zu nutzen? Nach diesen Dingen müssen wir schauen, wie nach den kleinen Wellen auf der Wasseroberfläche eines Sees.

Es ist wichtig, selbst unsere Beziehung mit ihm zu beobachten und auch andere zu fragen, die Umgang mit ihm haben und dann mit unterscheidendem Gewahrsein urteilen. Und wir sollten daran denken, dass wir eine gute Eigenschaft einer Person daran erkennen, welche Auswirkung sie auf diese Person gemacht hat. Wie hat sich diese Person verändert?

Lehrer, die sich unethisch verhalten

Was soll ich tun, wenn eine Person, die ich über fünfzehn Jahre als meinen Lehrer betrachtet habe, plötzlich beginnt, sich eigenartig zu verhalten und ich es inakzeptabel finde? Soll ich eine solche Person als eine Informationsquelle betrachten und weiterhin ihre Texte lesen, ihr zuhören und ihre Vorlesungen besuchen? Soll ich diese Person weiterhin als einen meiner Lehrer ansehen, obwohl ich nicht gut finde, was sie tut?

In vielen Texten wird das sehr deutlich ausgedrückt. Wenn wir eine Beziehung mit einem spirituellen Lehrer eingegangen sind, vielleicht voreilig und ohne ihn über einen langen Zeitraum sorgfältig geprüft zu haben, und später feststellen, dass er schwerwiegende Mängel hat, dann sollten wir weiterhin anerkennen, welchen Nutzen wir eventuell durch diesen Lehrer erfahren haben, jedoch eine respektvolle Distanz wahren.

In den Texten wird ebenfalls sehr deutlich davon gesprochen, dass wir, in unserer Beziehung zu einem spirituellen Lehrer, niemals unser unterscheidendes Gewahrsein verlieren sollten. Wenn uns der Lehrer darum bittet, etwas Unethisches oder Unangemessenes zu tun, sollten wir nein sagen, jedoch ohne dabei wütend zu werden oder ihn zu beschuldigen. Wir könnten auch sagen: „Du hast mich darum gebeten, etwas Unethisches oder Unangemessenes zu tun“ – es muss ja nicht gleich unethisch sein, es könnte auch unangemessen sein – „Könntest du mir bitte erklären, warum du das gesagt hast? Was meinst du genau damit?“

Hier ist meine persönliche Erfahrung zu diesem Thema. Einmal fragte Seine Heiligkeit der Dalai Lama mich und noch zwei Rinpoches, mit denen ich zusammen an Übersetzungen für ihn arbeitete, diese riesige buddhistische Enzyklopädie von Jamgon Kongrul Rinpoche: „Ozean unendlichen Wissens“ (Shes-bya kun-khyab) zu übersetzen. Wohlgemerkt, dieses Projekt wurde einige Jahre später von Kalu Rinpoches Übersetzungsteam übernommen. Sie arbeiten, glaube ich, seit etwa 25 Jahren daran und das Projekt ist immer noch nicht abgeschlossen, obwohl sie mit mehreren Teams an verschiedenen Teilen arbeiten. Als uns Seine Heiligkeit diese Bitte zukommen lies, haben wir nicht einfach bedingungslos gehorcht, sondern fragten Ihn höflich bei unserer nächsten Audienz mit ihm: „Vielen Dank für das Vertrauen in unsere Fähigkeiten als Übersetzer, aber dieses Projekt ist so gewaltig, dass es wahrscheinlich den Rest unseres Lebens in Anspruch nehmen wird. Könnten Sie uns bitte erklären, wie sie das gemeint haben? Warum möchten sie, dass wir unser ganzes Leben damit zubringen, diese Enzyklopädie zu übersetzen?“ Seine Heiligkeit lachte und sagte: „Ich habe einfach nur gedacht, dass es gut wäre, es zu übersetzen. Aber ihr habt vielleicht recht. Es ist zu viel für euch drei damit anzufangen.“ Und so stellte er uns davon frei.

Dann gab es aber auch andere Dinge, um die mich Seine Heiligkeit bat und welche unmöglich schienen – sogenannte „mission impossibles“ – aber ich benutzte mein Unterscheidungsvermögen und akzeptierte sie. Aufgrund vorangegangener Erfahrungen war ich mir sicher, dass Seine Heiligkeit karmische Ursachen und Wirkungen, sowie die Verbindungen zwischen Menschen, sehen konnte. Hier ein Beispiel:

Einmal bat mich Seine Heiligkeit: „Ich möchte, dass du für mich einen schwarzen Sufi-Meister aus West-Afrika findest und ihn nach Dharamsala bringst.“ Seine Anweisungen waren ganz konkret. Und es war unglaublich – ich war in der Lage, so einen Meister fast ohne jegliche Bemühung zu finden. Kurz nach dieser Audienz war ich auf einer Vorlesungsreise in Europa unterwegs und traf dort einen deutschen Diplomaten, der in Afrika gearbeitet hatte. Ich fragte ihn, ob er jemanden kannte der auf diese Beschreibung passte. Und er sagte: „Oh, ich habe einen guten Freund, der Anführer der Sufis in Guinea – einem Land in West-Afrika – ist“. Ich kontaktierte den Mann, der zufällig gerade nach Indien zu einer ayurvedischen Behandlung gehen wollte. Zufällig würde er mit der Behandlung fertig sein, wenn ich wieder in Indien war und dann würden wir zufällig zur gleichen Zeit in Delhi sein. Und natürlich hatte er auch gerade dann zufällig ein paar freie Tage, so dass ich ihn nach Dharamsala begleiten konnte, um Seine Heiligkeit zu treffen. Und genauso machte ich es.

Natürlich könnte man darüber lächeln und sagen, es war reiner Zufall, dass alles so reibunslos lief, aber offensichtlich war sich Seine Heiligkeit über alle karmischen Ursachen bewusst, die dazu führten. Ich habe also mein Unterscheidungsvermögen benutzt, um zu beurteilen, was für mich möglich war, als mich mein spiritueller Meister um etwas bat: eine Enzyklopädie zu übersetzen, oder einen westafrikanischen Sufi-Meister zu suchen und zu ihm zu bringen. Wie Buddha schon sagte: prüfe immer alles, als würdest du Gold kaufen.

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