Von den zwei Wahrheiten zu den vier Wahrheiten

Auf ein spirituelles Ziel hinarbeiten

Wenn wir ein spirituelles Ziel anstreben, gibt es zwei Arten, darauf hinzuarbeiten:

  • Die eine besteht darin, einfach Vertrauen zu haben, dass es möglich ist, dieses Ziel zu erreichen, und auf der Grundlage dieses Glaubens arbeitet man dann darauf hin. Während man durch Übung immer weiter fortschreitet, gelangt man allmählich zu der Überzeugung, dass das Erreichen des Ziels möglich ist. Mit anderen Worten: Wenn das Ziel darin besteht, das Leiden zu überwinden und zu beseitigen, sodass man nie wieder leiden muss, und wenn man das Vertrauen hat, dass es tatsächlich möglich ist, dies zu erreichen, dann lässt das Leiden, während man auf dieses Ziel hinarbeitet, immer mehr nach, und so gewinnt man die Überzeugung: „Ja, vielleicht ist es tatsächlich möglich, dieses Ziel zu erreichen.“ Zu dem eigenen Fortschritt in Richtung auf dieses Ziel gehört es, dass man mehr studiert, mehr lernt, mehr meditiert, und dadurch erlangt man auch in logischer Hinsicht die Überzeugung, dass das Ziel erreichbar ist.
  • Die zweite Art besteht darin, zuerst durch Argumente und Logik zu der Überzeugung zu kommen, dass das Ziel erreichbar ist, und dann darauf hinzuarbeiten.

Das sind die zwei Herangehensweisen, die normalerweise im Zusammenhang mit den zwei Methoden, Bodhichitta zu entwickeln, erörtert werden – sofern wir sie im Rahmen des klassischen buddhistischen Schemas platzieren wollen.

Zuerst entwickelt man das relative Bodhichitta, mit dem man die eigene künftige Erleuchtung anstrebt, die noch nicht stattgefunden hat, aber stattfinden kann, und man möchte sie erreichen, um allen Wesen zu nützen. Man hat also das Vertrauen, dass es möglich ist, sie zu erreichen, weil man erkannt hat, dass man nur dann wirklich allen von Nutzen sein kann, wenn man den Zustand erreicht, in dem man Ursache und Wirkung sowie die bestmögliche Art, allen zu nützen, vollkommen versteht.

Während man immer weiter fortschreitet, entwickelt man dann das so genannte tiefste Bodhichitta, welches im Verständnis der Leerheit besteht – über die wir gestern gesprochen haben -, nämlich, ganz einfach ausgedrückt, dem Verständnis, dass die Dinge nicht auf unmögliche Arten existieren. Man versteht also die Realität. Und wenn man die Realität versteht, versteht man, dass es möglich ist, die Realität auch wahrzunehmen, d.h. dass die Natur des Geistes imstande ist, nur die Realität selbst wahrzunehmen, ohne Fantasievorstellungen darauf zu projizieren. Dieses Ziel ist also erreichbar, und das versteht man mit Hilfe von Logik.



Doch die andere Herangehensweise besteht darin, zuerst das Verständnis der Realität zu entwickeln. Das heißt: Wir verstehen, dass Erleuchtung möglich ist – entwickeln also das tiefste Bodhichitta zuerst -, und auf dieser Grundlage sind wir überzeugt, dass Erleuchtung erreichbar ist. Dann arbeiten wir darauf hin. Diese zweite Herangehensweise finden wir in einem der Texte von Nagarjuna, einem großen indischen Meister, beschrieben, nämlich in seinem Text namens „Kommentar zum Bodhichitta“ (Skt. Bodhichittavivarana).

Diese Herangehensweise, in der wir zuerst mittels Logik zu der Überzeugung gelangen, dass Erleuchtung erreichbar ist, wird in dem Vers umschrieben, über den wir hier sprechen: von den zwei Wahrheiten zu den vier Wahrheiten und von den vier Wahrheiten zu den drei Zufluchten. Der ganze Zweck, dem all das dient, ist, uns verstehen zu helfen, dass die Befreiung vom Leiden, und zwar so, dass es nie wieder auftritt, sowie auch die Erleuchtung, mit der wir alles ganz und gar erkennen, tatsächlich möglich sind, da diese auf der Realität beruht.

  • Befreiung ist der Zustand des Freiseins von zwanghaft wiederholt auftretender Wiedergeburt: völlig frei von Samsara, d.h. für immer frei von Leiden. Diejenigen, welche die Befreiung erreicht haben, sind „Arhats,“ befreite Wesen.
  • Erleuchtung ist der Zustand des Freiseins von allen Schleiern, die dich daran hindern, die besten Mittel und Wege, alle begrenzten Wesen zur Befreiung und Erleuchtung zu führen, zu begreifen. Erleuchtete Wesen sind sogenannte „Buddhas.“  

Wenn wir überzeugt sind, dass Befreiung und Erleuchtung tatsächlich möglich ist – und zudem, dass nicht nur Buddha Shakyamuni, sondern auch wir selbst fähig sind, das zu erreichen -, dann gewinnen wir daraus eine Menge Kraft und Stabilität in unserer spirituellen Praxis. Allerdings ist es nicht besonders einfach, das zu verstehen; es hat auch nie jemand behauptet, es wäre einfach.

Die zwei Wahrheiten

Gestern haben wir die erste Zeile erörtert:

Indem wir die Bedeutung der zwei Wahrheiten kennen, nämlich die Basis, die Art und Weise, wie alles verweilt, …

Die Grundlage, auf der diese ganze Erörterung beruht, ist also die Darstellung der zwei Wahrheiten. Dabei handelt es sich um die zwei Wahrheiten darüber, wie alles existiert, wie alles funktioniert („die Art und Weise, wie alles verweilt“ heißt es im Text). Diese zwei Wahrheiten über alles sind beide gleichermaßen wahr:

  • Die relative Wahrheit: die Dinge entstehen in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen. Natürlich können wir noch weiter gehen: Die Dinge sind zudem auch abhängig von ihren Teilen, und sie hängen auch von den Begriffen, mit denen sie benannt werden, ab. Es gibt viele verschiedene Ebenen dessen, wovon die Dinge abhängig sind, aber in unserem Kontext liegt der Schwerpunkt auf Ursache und Wirkung im erfahrungsbezogenen Sinne, insbesondere in Bezug auf unsere Erfahrung von Glück und Unglück im Zusammenhang mit der Zwanghaftigkeit von Karma.
  • Die tiefste Wahrheit über die Dinge ist, dass die Dinge zwar aufgrund unserer Projektionen so erscheinen mögen, als würden sie auf unmögliche Art existieren, dass aber diese täuschenden Erscheinungen, nämlich unmögliche Arten zu existieren, nicht der Realität entsprechen. Es geht also darum, dass etwas ganz und gar nicht vorhanden ist – der Begriff dafür lautet Leerheit.

Die vier edlen Wahrheiten

Auf der Grundlage der zwei Wahrheiten war Buddha dann imstande, das zu verstehen, was er im Zusammenhang mit den vier Wahrheiten ausgedrückt hat. Das ist in der zweiten Zeile enthalten:

So gewinnen wir, mittels der vier Wahrheiten, Gewissheit darüber, wie wir immer wieder in zwanghaft auftretende Wiedergeburten eintreten, aber diesen Vorgang auch umkehren können.

Diese vier edlen Wahrheiten werden von spirituell weit fortgeschrittenen Wesen als wahr erkannt. Das ist ein interessanter Punkt. Er bedeutet, dass nicht nur der Buddha sie als wahr und als Tatsachen erkennt, sondern auch diejenigen, die eine bestimmte Stufe vor der Buddhaschaft erreicht haben – sogar schon ziemlich lange, bevor sie Buddhaschaft erreichen. Wenn sie eine bestimmte Stufe erreicht haben, können sie sehen, dass diese vier Tatsachen wahr sind. Dies geschieht dann, wenn man eine unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit hat und die Realität unmittelbar erkennt. Diese Erkenntnis bzw. Wahrnehmung der Leerheit ist völlig präzise, ganz und gar entschieden, und sie ist unbegrifflich, d.h. man nimmt sie nicht mittels einer Kategorie – der Kategorie „Leerheit“ – wahr.

Wenn wir mittels Kategorien denken, z.B. der Kategorie „Hund“, dann gibt es in unseren Gedanken an einen Hund etwas, das einen Hund repräsentiert. Was einen Hund repräsentiert, wenn wir an einen Hund denken, kann bei jedem von uns leicht unterschiedlich sein. Wenn wir zu Hause oder auf der Straße einen Hund sehen, nehmen wir ihn mittels dieser Kategorie und dieses Bildes wahr, das wir davon haben, was ein Hund ist, und fügen das sozusagen zusammen. Wenn man etwas unbegrifflich wahrnimmt, so findet die Wahrnehmung ohne all das statt, also ohne Kategorie und etwas, was diese Kategorie repräsentiert; es handelt sich dann um einfache Wahrnehmung. Der Fachausdruck dafür lautet „bloße“ oder „nackte“ Wahrnehmung. Du nimmst Dinge wahr, ohne diese in Schubladen zu stecken.

Wesen mit weit fortgeschrittenen spirituellen Erkenntnissen und Verwirklichungen – auf Sanskrit werden sie „Aryas“ genannt – nehmen die Realität wahr, ohne sie in eine Schublade mit dem Etikett „Realität“ zu stecken, etwa indem sie dächten: „Jetzt sehe ich die Realität“. Sie wissen ganz und gar, präzise und entschieden, was sie wahrnehmen – sie nehmen Realität wahr, aber sie tun das, ohne sie in irgendeine Schublade oder Kategorie einfügen zu müssen. Das ist nicht so einfach. Selbst wenn wir die Schublade, in die wir die Dinge stecken, nicht mit Worten benennen, ist das doch die gewöhnliche Art und Weise, auf die wir alles wahrnehmen. Wir stecken alles in Schubladen, so als würden die Dinge von sich aus in solchen Schubladen existieren, getrennt von allen anderen.

Hier in unserem Kontext ist es nicht notwendig, noch mehr über begriffliche Wahrnehmung zu erklären. Der wesentliche Punkt ist, dass man kein Buddha sein muss, um die Realität derart – ohne Kategorien – wahrzunehmen. Wenn wir die Realität auf diese Weise wahrnehmen können, dann sind wir imstande, die so genannten vier edlen Wahrheiten als wahr zu erkennen, und wir sind uns dessen gewiss.

Was sind nun diese vier Wahrheiten? Die erste bezieht sich auf das Leiden. In der zweiten geht es um die Ursache des Leidens. Die dritte beschreibt die Beendigung des Leidens und seiner Ursachen. Die vierte bringt den Pfad zum Ausdruck, d.h. das Verständnis, welches als Weg fungiert, der dorthin führt und sein Resultat erreicht. Diese Tatsachen werden „wahr“ genannt – wahres Leiden, wahre Ursachen usw.

Diese gesamte Erläuterung steht im Kontext von Wiedergeburt – d.h. im Kontext von anfangs- und endlosen geistigen Kontinua. Wiedergeburt ist die Grundlage. Wir haben über die individuelle, augenblickliche Erfahrung von Dingen gesprochen, welche nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung operiert. Wenn sie von Augenblick zu Augenblick im Sinne von Ursache und Wirkung stattfindet, kann sie aber auch keinen absoluten Anfang haben, in dem sie aus dem Nichts entstand. Ebenso wenig kann sie nicht in ihrem letzten Moment ohne Wirkung bleiben, indem sie sich in Nichts auflöst. Das ist unmöglich. Allein aus der grundlegenden Wahrheit von Ursache und Wirkung müssen wir also schließen, dass individuelle geistige Kontinua keinen Anfang und kein Ende haben; daher also Wiedergeburt.

Wahres Leiden

Was ist wahres Leiden? Es tritt in drei Aspekten auf:

  • Da ist zunächst einmal unser gewöhnliches Gefühl von Unglücklichsein. Das wird das Leiden am Leiden genannt. Interessant ist: Das ist nicht notwendigerweise dasselbe wie Schmerz. Wenn von Glück und Unglück die Rede ist und wenn von Behagen und Schmerz die Rede ist, so geht es dabei um zwei verschiedene Gegensatzpaare. Behagen und Schmerz sind physische Empfindungen, während Glück und Unglück geistige Zustände sind. Es gibt Menschen, die Schmerz empfinden und glücklich darüber sind (z.B. nach einem anstrengenden Workout), und manche Menschen erleben Behagen und sind sehr unglücklich dabei. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Paare von Variablen. Hier in unserem Kontext ist die Rede von Unglück, und wir alle wissen, wie das ist. Es wird im Zusammenhang mit den schlimmeren Arten der Wiedergeburt beschrieben, die voller Leiden und schrecklichem Unglück sind.
  • Die zweite Art des Leidens wird das Leiden der Veränderung genannt. Es handelt sich dabei um unsere gewöhnliche Art von Glück. Das Problem bei unserem gewöhnlichen Glück ist, dass es nicht dauert; es stellt nie zufrieden – wir wollen immer noch mehr -, und wenn wir zu viel davon haben, wird es uns lästig und verwandelt sich in Unglücklichsein. Wenn wir z.B. zu viel von unserer Lieblingsspeise essen, wird uns irgendwann schlecht davon, und dann mögen wir nichts mehr essen und sind ganz unglücklich darüber. Es gibt also ein Problem, es ist nicht befriedigend und nicht stabil. In unserem gewöhnlichen Leben geht es ständig auf und ab, manchmal fühlen wir uns glücklich, manchmal unglücklich, wie auf einer Wippe. Es gibt keine Sicherheit, denn ganz gleich, was um uns herum geschieht, wir wissen nie, wie es uns im nächsten Moment gehen wird. Ganz plötzlich beschleicht uns ein Gefühl des Unglücklichseins oder des Überdrusses. Unsere Erfahrungen gehen die ganze Zeit immerzu auf und ab.
  • Die dritte Ebene, die dritte Art des Leidens wird das alles umfassende Leiden genannt. Es liegt unserer Erfahrung dieses ständigen Wechsels von Unglück und gewöhnlichem Glück zugrunde. Die Basis dafür ist unsere immer wiederkehrende Existenz bzw. Wiedergeburt, über die wir keine Macht haben – das Sanskrit-Wort dafür lautet „Samsara. Wir werden immer wieder mit einer Art von Körper und einer Art von Geist geboren, welche wiederum Grundlage dafür sind, dass wir das Auf und Ab von gewöhnlichem Glück und Unglück erleben. Das ist also das wahre Leiden, das wahre Problem. Es ist das wesentliche Leiden, das man sieht, wenn man die Realität erkennt.

Die wahren Ursachen des Leidens

Wenn wir die Realität sehen, stellen wir also fest, dass wir uns in einer Situation befinden, in der wir ein ständiges Auf und Ab erleben, und dass es eine Grundlage dafür gibt, dass sich das fortsetzt und einfach immer so weitergeht. Das ist die Realität, die man als wahr erkennt. Und wenn wir das sehen, dann verstehen wir – weil wir die Realität verstehen -, dass dies aufgrund einer Ursache so sein muss. Was ist nun die wahre Ursache dafür? Was ist die wahre Ursache dafür, dass wir, wie es in dem Vers heißt, „immer wieder in zwanghaft auftretende Wiedergeburten eintreten“. Mit anderen Worten, wie geht das vor sich? Was ist die Ursache dafür, diesen sich wiederholenden Kreislauf fortzusetzen?

Was haben wir in unserer Erörterung gestern Abend festgestellt? Wir haben gesehen, dass wir Folgendes verstehen können: Wenn wir Unglück erleben, so ist es das Resultat von destruktivem Verhalten, und wenn wir gewöhnliches Glück erleben, so ist es das Resultat von konstruktivem Verhalten. Doch wir müssen hier die Übersetzung des Wortes „Karma“ hinzufügen – was ich jetzt als „zwanghaft“ übersetze. Es handelt sich also um zwanghaftes, destruktives Verhalten oder zwanghaftes konstruktives Verhalten. Es geht hier nicht um das konstruktive Verhalten, das ein Buddha an den Tag legt. Worüber wir hier reden, ist zwanghaftes konstruktives Verhalten, etwa von jemandem, der zwanghaft Gutes tut – was auf einer Art Ego-Trip beruht, ein zwanghaftes Streben nach Perfektion und danach, immer alles richtig zu machen. Das kann ziemlich neurotisch sein.

Wenn wir zwanghaft handeln, so ist es deshalb, weil wir unter dem Einfluss störender Emotionen stehen. Wir haben darüber im Zusammenhang mit zwanghaftem, destruktivem Handeln gesprochen. Wir können z.B. zum Beispiel aus Wut jemanden töten, oder aus Gier etwas stehlen. Aus Naivität können wir denken, dass die Art, wie wir uns verhalten, keine Folgen hat: Niemand wird uns erwischen. „Es spielt keine Rolle, ob ich stehle; ich werde mein Vergnügen haben“ – diese Art von naiver Einstellung liegt dem zugrunde.

Was hinter diesem zwanghaften destruktiven Verhalten steckt, ist fehlendes Gewahrsein. Fehlendes Gewahrsein wird oft als „Unwissenheit“ übersetzt. Wessen sind wir uns nicht gewahr? Die erste Ebene davon ist, dass wir uns der Ursache und Wirkung nicht gewahr sind. Wenn wir sie wirklich verstehen würden und vollkommen überzeugt davon wären – verstehen beinhaltet hier korrektes, präzises Verständnis und feste Überzeugung von Ursache und Wirkung -, dann würden wir uns nicht destruktiv verhalten, denn wir wüssten: „Wenn ich destruktiv handele, werde ich letztlich darunter leiden. Ich werde unglücklich sein. Ich werde Unglück erfahren.“ Wir reden hier nicht von Strafe, es geht lediglich darum, was die Ursache dafür ist, dass wir uns ziemlich oft unglücklich fühlen.

Wenn von fehlendem Gewahrsein die Rede ist, so werden zwei Arten davon erwähnt. Entweder wir wissen einfach nicht, dass destruktives Handeln uns letztlich Unglück einbringt, oder wir meinen, das Gegenteil wäre der Fall: Wir denken „Wenn ich destruktiv handle, wird das dazu führen, dass ich glücklich bin. Wenn ich stehle, wird es mir gut gehen. Wenn ich meine Feinde töte, wird mich das froh machen.“ Es kann zwar sein, dass wir unmittelbar nach einer destruktiven Handlung wirklich froh sind – „Ha, jetzt hab ich die Mücke erschlagen“, aber wenn wir von den Langzeitwirkungen reden, so ist die Tatsache (dass wir, egal, was passiert, manchmal unglücklich sind) aufgrund von destruktivem Verhalten der Fall. Destruktives Verhalten geht also auf fehlendes Gewahrsein hinsichtlich Ursache und Wirkung zurück, mit anderen Worten, fehlendes Gewahrsein hinsichtlich der relativen Wahrheit. Ich will keineswegs behaupten, dass das, was ich gerade in ein paar wenigen Sätzen dargestellt habe, einfach zu verstehen ist. Das ist es nicht, aber es ist etwas, woran wir arbeiten können.

Fassen wir diesen Punkt zusammen: Der Grund, warum wir uns oft unglücklich fühlen, liegt darin, dass wir Ursache und Wirkung nicht verstanden haben. Wenn mein Geist voller Ärger, Gier, Missgunst usw. ist, veranlasst mich das, zwanghaft zu handeln, und aufgrund dessen fühle ich mich ziemlich oft unglücklich. Das ist die Verknüpfung, die wir herstellen müssen.

Das Glück, das wir erfahren, stammt ebenfalls aus einer bestimmten Art von fehlendem Gewahrsein, und zwar in diesem Fall dem fehlenden Gewahrsein hinsichtlich der tiefsten Wahrheit der Dinge. Um genauer zu sein, müssen wir sagen, dass fehlendes Gewahrsein der tiefsten Wahrheit sowohl konstruktivem als auch destruktivem Verhalten zugrunde liegt. Und konstruktives zwanghaftes Verhalten geht nur auf das fehlende Gewahrsein der tiefsten Wahrheit zurück. Es ist, als wäre da eine Art Stimme in unserem Kopf, die denkt: „Was soll ich bloß tun? Ich will meinen Willen durchsetzen! Ich mache mir Sorgen.“ Es scheint, als säße ein wahrhaft auffindbares kleines „Ich“ da drinnen, das das Sagen hat. Aber das entspricht nicht der Realität. So etwas gibt es nicht. Es gibt nur eine verbale Komponente unserer Gedanken, aber kein kleines „Ich“, welches das Klagen und Sorgen macht. Wenn wir uns nicht gewahr sind, wie wir existieren, sind wir uns der tiefsten Realität nicht gewahr, wir identifizieren uns stattdessen mit der projizierten Fantasievorstellung von diesem kleinen Ich in unserem Innern. Und weil das nicht der Realität entspricht, fühlen wir uns dessen sehr unsicher und versuchen uns Sicherheit zu verschaffen – was natürlich nicht gelingen kann.

Ein Mechanismus, den wir für den Versuch anwenden, dem imaginierten kleinen „Ich“ Sicherheit zu verschaffen, sind unsere störenden Emotionen. Wir haben das Gefühl: „Wenn ich mir bloß etwas aneignen kann, dann werde ich mich sicher fühlen“, und deshalb haben Gier, Anhaftung und Lust auf etwas. Oder: „Wenn ich das bloß loswerden kann, dann werde ich mich sicher fühlen“ – das ist Ärger und Abneigung. Oder vielleicht sind wir naiv und denken: „Wenn ich einfach vorgebe, dass das, was mich bedroht, nicht existiert, wird mich das sicherer machen.“ Auf dieser Grundlage entsteht destruktives Verhalten, etwa wenn wir unseren zunehmenden Stresspegel ignorieren. Beruhend auf Ärger schreien wir jemanden an, verletzen andere oder töten sogar. Basierend auf Gier stehlen wir oder verwickeln uns in unangemessenes sexuelles Verhalten, das irgendjemanden verletzen wird. Aufgrund von Naivität werden wir Workaholics, essen ungesunde Nahrung und bewegen uns zu wenig. All das geht auf Naivität hinsichtlich der tiefsten Wahrheit – wie wir existieren – und fehlendes Gewahrsein hinsichtlich Ursache und Wirkung zurück.

Im Falle konstruktiven Verhaltens kann es zwar sein, dass wir nicht aufgrund von störenden Emotionen handeln, aber auch diesem Verhalten liegt immer noch die Naivität bzw. Verwirrung oder fehlendes Gewahrsein in Bezug darauf, wie wir existieren, zugrunde. Deshalb versuchen wir unsere Existenz zu beweisen oder abzusichern, indem wir perfekt sind, gut sind, immer eine gute Mutter sind oder irgendetwas in der Art – „Das wird dem Gefühl von einem festen Ich Sicherheit geben“ – und natürlich funktioniert das nicht; man fühlt sich nie sicher. Na schön, weil wir etwas Konstruktives tun, z.B. anderen helfen, unsere Kinder unterstützen usw., empfinden wir ein kleines bisschen Glück, aber es ist gewöhnliches Glück. Es wird nicht dauern, es wird nie zufriedenstellen usw., weil es durch das fehlende Gewahrsein bezüglich der tieferen Ebene bedingt ist, nämlich bezüglich der Art und Weise, wie wir existieren.

Kommen wir nun zu der dritten Art des Leidens. Was ist die Ursache dafür – für die fortgesetzte Grundlage dafür, dass wir dieses Auf und Ab von Unglück und gewöhnlichem Glück erleben? Um das darzustellen, gibt es eine komplizierte Grafik namens „Die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens“. Ich werde sie nicht vollständig erklären, aber es handelt sich hierbei um die Funktionsweise von Karma.

Um es ganz einfach darzustellen: Karma bezieht sich auf Zwanghaftigkeit. Von Zwanghaftigkeit getrieben verhalten wir uns auf bestimmte Weise. Dabei kann es sich um destruktives oder konstruktives Verhalten handeln. Was bedeutet Zwanghaftigkeit? Zwanghaftigkeit beinhaltet die Bedeutung, dass man keine Kontrolle über etwas hat, wie z.B., wenn jemand zwanghaft mit den Fingern auf etwas herumklopft. Der tibetische Ausdruck lautet einfach: „Ich will das tun“, „Ich habe den Wunsch, das zu tun“ oder „ich möchte das tun“, mir ist etwa danach jemanden anzuschreien, oder mir ist er nach, jemanden ganz herzlich zu umarmen; diese Bedeutungen sind darin enthalten. Dann kommt der Faktor der Zwanghaftigkeit ins Spiel und dann tut man, wonach einem ist. Wir können hier den Vorgang dahingehend vereinfachen, dass dadurch eine bestimmte Tendenz aufgebaut wird, solches Verhalten zu wiederholen, und, falls das Verhalten destruktiv war, Unglück zu erleben, oder, falls das Verhalten konstruktiv war, gewöhnliches Glück zu erleben. Diese Tendenz wird irgendwann durch gewisse Bedingungen aktiviert und reift heran, sodass wir uns glücklich oder unglücklich fühlen oder es uns danach ist, jemanden anzuschreien oder jemanden zu umarmen usw.

Es handelt sich also um ein Schema, das sich fortsetzt. Es geht immer weiter und weiter, weil wir ständig diesen Wunsch haben, diese Art von Verhalten fortzusetzen. Dieses Verhaltensmuster wiederholt sich also immer wieder, und wir erleben immerzu das Auf und Ab von Glück und Unglück.

Die wichtige und interessante Frage ist nun: Wie werden diese Tendenzen aktiviert, ihr Resultat hervorzubringen, sodass wir ein solches Verhalten wiederholen möchten? Das ist es, was mittels der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens sehr schön, aber auch äußerst komplex erklärt wird, nämlich wie es dazu kommt, dass wir Glück und Unglück, dieses ständige Auf und Ab erleben. Das muss nichts Dramatisches sein. Selbst im Schlaf kommt es vor, oder vielleicht, wenn wir uns zwischen Schlafen und Wachen befinden, nicht gut einschlafen können und uns nicht recht wohl fühlen. Wir erleben jedenfalls Glück und Unglück. Und auf welche Weise erfahren wir das? Wie ist der Zustand unseres Geistes, während wir Unglück und gewöhnliches Glück erfahren? Das Sanskritwort dafür lautet „Durst“ (trishna). Normalerweise wird es als „Begierde“ übersetzt, aber das Wort, das im Sanskrit dafür verwendet wird, bedeutet eigentlich „Durst“.

Wenn wir Unglück erleben, empfinden im Grunde wir unstillbaren Durst, es loszuwerden, so wie wir das Gefühl loswerden möchten, durstig zu sein. Und wenn wir Glück erleben, möchten wir auf keinen Fall, dass es aufhört, wir wollen mehr davon. Es ist so, wie wenn wir wirklich durstig sind und dann den ersten Schluck Wasser trinken – das ist nicht genug, oder? Man will nicht davonlassen. Man will mehr. Dazu kommt dann noch das Greifen nach einem festen Ich – „Ich muss dieses Unglücklichsein loswerden“, „Ich darf dieses Glück nicht verlieren“ – das ist es, was die karmischen Tendenzen, diesen geistigen Zustand, aktiviert. Ist das soweit verständlich? Das ist also die wahre Ursache des alles umfassenden Leidens. Diese Tendenzen dazu, Glück, Unglück usw. zu erleben, stammen also aus zwanghaftem Verhalten, gemischt mit störenden Emotionen, die wiederum aus unserem fehlenden Gewahrsein hinsichtlich der Realität, der tiefsten Ebene, herrühren,  nämlich hinsichtlich dessen, wie unsere Gefühle existieren (sie verändern sich ständig) und – wie wir existieren (nicht als eine auffindbare, unsichere Wesenheit in unserem Kopf, die irgendwie sicherer gemacht werden könnte, indem wir nach etwas greifen.

Dieses fehlende Gewahrsein ist die grundlegende Ursache, und es geht sowohl mit konstruktivem als auch mit destruktivem Verhalten einher. Das ist der eigentliche Unruhestifter, der bewirkt, dass diese Tendenzen vorhanden sind, glücklich oder unglücklich zu sein und unser Verhalten zu wiederholen. Und auch wenn wir diesen Durst betrachten, stellen wir fest, dass damit wiederum unweigerlich dieses fehlende Gewahrsein, wie wir existieren, verknüpft ist. Wir denken: „Ich bin eben ich, das einzige, was zählt, und ich darf dieses Glück nicht verlieren, es ist ungemein wichtig, dass ich nicht unglücklich bin“ – statt: „Okay, ich bin glücklich oder unglücklich. Na und?“ und keine große Sache daraus zu machen. Die wahre Ursache für unsere fortwährende zwanghaft immer wieder erfolgende Wiedergeburt ist schlicht und einfach unser fehlendes Gewahrsein der zwei Wahrheiten.

Die wahre Beendigung der Ursachen für das Leiden

Die dritte Wahrheit ist die wahre Beendigung: die wahre Beendigung der Ursache für das Leiden und daher die wahre Beendigung des Leidens. Warum ist es möglich, dieses fehlende Gewahrsein hinsichtlich der Realität für immer auszurotten? Aus welchem Grund? Der Grund dafür ist: Wenn wir etwas wahrnehmen bzw. projizieren, was nicht real ist, so gibt es nichts, was es aufrechterhält. Der Ausdruck, der dafür im Tibetischen verwendet wird, bezieht sich auf Folgendes: In einem Schauspiel mit der Kulisse einer Landschaft gibt es z.B. Stangen, die die Kulisse abstützen. Der entsprechende tibetische Ausdruck bezieht sich in unserem Zusammenhang darauf, dass es nichts gibt, was die Projektionen dessen, was unmöglich real sein kann, aufrechterhält, dass nichts dahintersteckt, was sie abstützt. Was geschieht, wenn nichts diese Szenerie abstützt? Sie fällt zusammen.

Wenn man auf die Tatsache konzentriert bleiben kann, dass nichts da ist, was die Erscheinung – nämlich, dass da ein festes Ich in meinem Kopf sitzt – aufrechterhält, nichts, was dahintersteckt, nichts was dem in Wirklichkeit entspricht, dann kann man für immer bei dieser Einsicht bleiben und es ist unmöglich, die Szenerie wieder auferstehen kann. Das Schauspiel des kleinen Ich im Kopf, das sich sorgt: „Was soll ich bloß machen?“, „Ich muss das und das tun“, „Ich muss perfekt sein“, „Ich muss meinen Willen durchsetzen“ usw. findet ein Ende. Wir hören auf, das Drama des kleinen Ich in unserem Kopf aufzuführen, das die ganze Zeit plappert und sich Sorgen macht. Mit anderen Worten: Wenn wir sehen, dass es nie etwas gegeben hat, was unsere Projektionen aufrechterhält und sie in der Realität unterstützt – wenn wir also die Realität sehen -, dann ist der Zustand des Geistes so, dass er nichts Unmögliches mehr projiziert. Darauf beruhend werden wir dann jene Tendenzen nicht mehr aktivieren, denn es ist nichts mehr da, was sie aktivieren würde. Man hat aufgehört mit dem ständigen: „Ich ich ich. Ich muss glücklich sein. Ich muss es abstellen, unglücklich zu sein.“

Und wenn nichts da es, was die Tendenz aktiviert, kann man nicht sagen, dass man noch eine Tendenz hat. Etwas kann nur eine Tendenz zu einem Resultat sein, wenn es auch ein Resultat geben kann. Der ganze Begriff der Tendenz hängt davon ab, dass es etwas gibt, zu dem sie führt (wenn es nichts gibt, zu dem sie führt, kann es keine Tendenz zu etwas sein).

Das ist also die Art und Weise, wie man unkontrolliert auftretende Wiedergeburten abwenden kann. Und selbst wenn unser geistiges Kontinuum seit anfangsloser Zeit voller karmischer Tendenzen ist, spielt das keine Rolle. Wenn nichts da ist, was diese Tendenzen aktiviert, sind es keine Tendenzen mehr. Und weil wir bei diesem Gewahrsein, diesem Verständnis, bleiben, bauen wir keine weiteren Tendenzen auf – wir bauen kein zwanghaftes Verhalten usw. mehr auf, das weitere Tendenzen zur Folge hätte; damit sind die unkontrolliert auftretenden Wiedergeburten und die Grundlage für jenes Auf und Ab von Glück und Unglück vorbei, zu Ende. Das ist eine wahre Beendigung und wir erreichen die Befreiung.

Die Geisteszustände der wahren Pfade, die die wahre Beendigung herbeiführen

Die vierte edle Wahrheit wird für gewöhnlich als „wahrer Pfad“ übersetzt, aber das, worauf sie sich bezieht, ist nicht etwas, worauf man gehen kann, sondern es bezieht sich auf Geisteszustände, auf ein Verständnis, das uns wie ein Pfad zu einem Ziel führen wird, und sein Ergebnis hervorbringt, wenn man das Ziel dann tatsächlich erreicht. Es handelt sich um das korrekte Verständnis der zwei Wahrheiten. Das wird, je mehr man sich damit vertraut macht, bis man es schließlich die ganze Zeit über hat, als Pfad fungieren, welcher zu der wahren Beendigung führt, mit der die unkontrolliert auftretenden Wiedergeburten, also die wahren Leiden, aufhören.

Fazit

Das ist also die Art und Weise, wie wir die vier Wahrheiten aus den zwei Wahrheiten herleiten.

Wie treten wir in den Daseinskreislauf (Skt. samsara) ein – wie kommt es dazu, dass wir, in den Worten des Verses ausgedrückt, „immer wieder in zwanghaft auftretende Wiedergeburten eintreten“ – und damit in alle möglichen Leiden? Das wird mit den ersten beiden Wahrheiten erklärt: wahre Leiden und dessen wahre Ursachen. Im Grunde treten wir infolge unserer Verwirrung hinsichtlich der zwei Wahrheiten, infolge fehlenden Gewahrseins in den Daseinskreislauf ein. Entweder wir kennen die Realität nicht, oder wir stellen uns darunter etwas vor, das ganz anders ist als die Realität. Und wie kommen wir aus diesem Kreislauf heraus? Das kommt in der dritten und der vierten Edlen Wahrheit zum Ausdruck: wahre Beendigung, und das, was dazu führt, dass wir diese wahre Beendigung erreichen, nämlich der Geisteszustand des wahren Pfades, wie ich es nenne, – der Zustand des Geistes, der uns dorthin bringt (mit anderen Worten: aufgrund von Verständnis der zwei Wahrheiten). Aufgrund von Unkenntnis der zwei Wahrheiten über die Realität geraten wir also zu den ersten beiden der vier edlen Wahrheiten, und dadurch, dass wir die zwei Wahrheiten verstehen, gelangen wir zu den anderen beiden der vier edlen Wahrheiten, nämlich zu der dritten und der vierten Wahrheit.

Dies ist zwar ein sehr komplexes Thema, aber das ist die Art und Weise, wie wir mit den buddhistischen Lehren arbeiten, um zu versuchen, eine gewisse Überzeugung davon zu erlangen, dass es tatsächlich möglich ist, die Ziele zu erreichen, die im Buddhismus beschrieben werden und die wir mit unserer buddhistischen Praxis anstreben. Haben wir einmal diese Lehren verstanden und sie mit all dem in Verbindung gebracht, was sie implizieren, können wir uns durch Meditation mit ihnen weiter vertraut machen und es uns zur Gewohnheit machen, die Realität zu sehen.

Auf der Grundlage dieses Prozesses von Zuhören, Nachdenken und Meditieren können wir dann die Überzeugung gewinnen, dass das Ziel, das wir mit unserer Praxis anstreben, tatsächlich im Bereich des Möglichen liegt, dass es also eine Tatsache ist, dass es erreichbar ist und dass auch ich es erreichen kann, wenn ich genug Arbeit in dieses Unterfangen investiere. Dann wird unsere Praxis erheblich gefestigter sein. Sie beruht dann nicht nur auf einer wackeligen Mutmaßung, dass das, was wir anstreben, vielleicht möglich sein wird, sondern wir erlangen Gewissheit darüber.

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