Der für Bodhichitta-Meditation erforderliche Geisteszustand

Vers der Huldigung und Vers 1

Der Autor: Atisha

„Ein Juwelenkranz des Bodhisattvas“ (Skt. Bodhisattva-mani-avali) wurde von dem großen indischen Meister Atisha (Atisha Dipamkarashrijnana, 982-1054) verfasst. Als anerkanntem Meister im Kloster Vikramashila lag ihm das Erhalten und Bewahren der Lehren über Bodhichitta, die in Indien nicht überall verfügbar waren, besonders am Herzen.

Allgemein gab es in den Sutra-Lehren des Mahayana, die auf Buddha zurückgehen, drei Überlieferungslinien, nicht nur zwei, wie oft in den Liniengebeten erwähnt wird: zum einen die weit verbreiteten Lehren über Bodhichitta, zum anderen die tiefgründigen Lehren über die Leerheit, die beide in begrenztem Maße in Indien verfügbar waren. Außerdem gab es noch eine Praxis-Überlieferung in Bezug auf Bodhichitta, und um diese zu studieren, begab sich Atisha auf eine 13-monatige Reise nach Sumatra zu dem berühmten Meister Serlingpa, dem Halter dieser Übertragungslinie.

Nachdem Atisha die Lehren dieser Praxis-Überlieferung, die später unter dem Begriff Geistestrainings (lojong, Training der Geisteshaltungen) bekannt wurden, studiert hatte, kehrte er nach Indien zurück. Daraufhin erhielt er eine Einladung nach Tibet. Dort war zu jener Zeit der Dharma im Niedergang begriffen. Zahlreiche Missverständnisse hatten sich eingeschlichen, und Atisha wurde nach Tibet eingeladen, um die korrekten Lehren wieder klarzustellen. Er begab sich auf die schwierige Reise ins Schneeland und begann dort die zweite Übermittlung des Dharma nach Tibet, wobei er auch die Lehren über die Praxis von Bodhichitta mitüberlieferte.

 Atisha ist auch als der Autor des ersten „Lam-Rim“-Textes über die aufeinanderfolgenden Stufen des Pfades bekannt. Von Atisha und seinem wichtigsten tibetischen Schüler, Dromtönpa (1005-1064), ging die Kadam-Tradition aus; ihre Anhänger werden Kadampas genannt. Der Text, über den wir hier sprechen werden, ist in dem Werk „Der Vater-Zyklus der Lehren des ‚Buches der Kadam‘“ enthalten, und zwar zusammen mit Erläuterungen zu jedem Vers, die Atisha in Beantwortung der Fragen gibt, die Dromtönpa, der „Vater“ der Kadam-Tradition, gestellt hatte.

Gampopa, ein Meister aus der Kagyü-Tradition, verband die Überlieferungslinien der Kadam-Tradition mit den Lehren über Mahamudra. Infolgedessen liegt in den Kagyü-Traditionen, die auf ihn zurückgehen, großes Gewicht auf den Lehren über Bodhichitta und das Geistestraining. Auch die Sakya- und die Nyingma-Tradition übernahmen diese Lojong-Lehren, die Unterweisungen zum Geistestraining. Es ist also deutlich erkennbar, dass diese Lehren eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Buddhismus in Tibet spielten. Es ist bedeutsam, so meine ich, dass dieser Text als erster einer Sammlung von hundert Lojong-Texten – Texten zum Training der Geisteshaltung – erscheint. Das weist darauf hin, dass dieser Text in vielerlei Hinsicht einer der Wegbereiter dieser Art von Literatur ist.

Die Kadam-Tradition verzweigte sich später in drei Überlieferungslinien. Tsongkhapa vereinte sie wieder und damit begann die Gelug-Tradition, die die Kadam-Tradition fortsetzt, indem sie die Lehren von Sutra und Tantra miteinander verbindet. Denn Atisha war auch ein Meister des Tantra; allerdings hatte er seine Praxis im Verborgenen durchgeführt und stets vertraulich gehalten. Hinweise auf die tantrischen Aspekte sind jedoch an mehreren Stellen seines Textes „Ein Juwelenkranz des Bodhisattvas“ zu finden, mit dem wir uns hier beschäftigen wollen.

Der Vers der Huldigung

Die erste Stelle, an der wir diese Kombination von Sutra und Tantra sehen, ist der Vers der Huldigung, den Atisha an den Anfang seines Textes gestellt hat. Atisha beginnt mit den Worten:

Ich verbeuge mich vor dem Großen Mitgefühl. Ich verbeuge mich vor den Höchsten Lehrern. Ich verbeuge mich vor den Buddha-Formen, vor all jenen, die des Vertrauens würdig sind.

Großes Mitgefühl

Mitgefühl besteht in dem Wunsch, dass andere frei von Leiden und den Ursachen für Leiden sein mögen, und großes Mitgefühl ist in dem Sinne groß, dass es nicht nur darauf abzielt, dass sie „frei vom Leid des Schmerzes und dem Leid der Veränderung sein mögen“ – letzteres bezieht sich auf die gewöhnliche, weltliche Art von Glück, die nicht andauert, und in der man nie weiß, was als nächstes geschieht -, sondern beinhaltet auch den Wunsch, dass andere von der alles durchdringenden Art des Leidens frei sein mögen. Das alles durchdringenden Leiden bezieht sich auf die Faktoren der Aggregate unserer Erfahrung – mit anderen Worten: die Vielfalt der Komponenten, die jeden Augenblick unserer Erfahrung in jeder unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt ausmachen. Sie sind aus Verwirrung entstanden, mit Verwirrung verbunden und setzen Verwirrung und Leiden immer weiter fort.

Großes Mitgefühl umfasst also den Wunsch, dass andere frei von all diesen Arten des Leidens sein mögen, anders ausgedrückt: dass sie Befreiung erlangen und darüber hinaus auch Erleuchtung erreichen mögen. Dieses Mitgefühl ist auch insofern groß, als es sich auf ausnahmslos alle begrenzten Wesen gleichermaßen erstreckt, mit der gleichen Haltung die eine liebevolle Mutter gegenüber ihrem einzigen Kind hat. Das ist großes Mitgefühl: ein wirklich außergewöhnlicher Geisteszustand, der restlos alle Wesen umfasst und auf die Erfüllung eines derart weit reichenden Zieles für sie alle gerichtet ist.

Spirituelle Lehrer

Die zweite Zeile des Huldigungs-Verses bringt die Verneigung vor den höchsten Lehrern (Skt. Guru)  zum Ausdruck – das sind die spirituellen Meister, die diese Qualität des großen Mitgefühls verkörpern. Aufgrund dessen sind sie angemessen qualifizierte spirituelle Lehrer. Sie haben mit jedem gleichermaßen Mitgefühl und ihr Bestreben ist, jedem zu helfen, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen – nicht nur ihren Schülern, sondern wirklich jedem. Das beeindruckendste Beispiel eines solchen Meisters können wir gegenwärtig wohl in Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama sehen. Seine unermüdlichen Bemühungen beim Lehren zielen darauf ab, überall auf der Welt jedem zu helfen, sein Leiden zu überwinden. Auch wenn er erschöpft ist, treibt er dieses Ziel voran. Das ist ein höchster Lehrer – tibetisch: „Lama“.

Die Buddha-Natur und die Untrennbarkeit von Guru, Avalokiteshvara und großem Mitgefühl

Sodann fügt Atisha hinzu: Ich verbeuge mich vor den Buddha-Formen. Das bezieht sich hier insbesondere auf Avalokiteshvara, auf Tibetisch „Chenresig“ genannt, der Verkörperung des Mitgefühls auf erleuchteter Ebene, des vollkommenen Mitgefühls eines Buddha. Es ist von besonderer Bedeutung, dass Atisha die spirituellen Lehrer zuerst nennt, also noch vor den Buddha-Formen (den so genannten „Yidams“), denn es heißt, dass man durch die Lehrer imstande ist, mit diesen Buddha-Formen in Kontakt zu treten.

Wenn die Rede davon ist, unseren Lehrer als einem Buddha zu betrachten, so bezieht sich das darauf, die Buddha-Natur in unserem Lehrer zu erkennen. Indem wir ihn als Beispiel betrachten, richten wir die Aufmerksamkeit auf seine Buddha-Natur und darauf, wie die Buddha-Natur vollständig verwirklicht werden kann, darauf, wie der spirituelle Meister dies verkörpert. Ob unser spiritueller Meister tatsächlich erleuchtet ist oder nicht, ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist vielmehr, sich auf die Buddha-Natur auszurichten, sodass sie uns inspirieren kann, unsere eigene Buddha-Natur zu erwecken.

Derjenige Aspekt der Buddha-Natur unseres Lehrers, der hier hervorgehoben wird, ist das vollkommenen Mitgefühl der Buddhas, das von der Buddha-Gestalt Avalokiteshvara verkörpert wird. Aus solchen Gründen visualisieren wir die Buddha-Formen oft im Herzen des spirituellen Meisters sowie auch in unserem eigenen Herzen; und häufig visualisieren wir auch den spirituellen Meister in unserem Herzen. Da wir durch den spirituellen Meister Zugang zu den Buddha-Formen und zur Erleuchtung gewinnen, führt Atisha in diesem Huldigungsvers Avalokiteshvara nach dem spirituellen Meister an.
Alle drei, Mitgefühl, den spirituellen Lehrer und Avalokiteshvara, fasst Atisha dann mit den Worten: all jene, die des Vertrauens würdig sind zusammen. Dieses Vertrauen bezieht sich speziell auf etwas, was tatsächlich der Fall ist. Vertrauen bedeutet nicht, an etwas zu glauben, dass man eigentlich nicht erkennen kann oder hinsichtlich dessen man sich nicht gewiss ist – wie etwa in der Aussage: „Ich glaube, dass es morgen vielleicht regnen wird“ -, sondern es geht vielmehr darum, eine Tatsache zu glauben. Die Tatsache ist in diesem Fall die Untrennbarkeit von Mitgefühl, höchstem Lehrer und Avalokiteshvara. Mit voller Überzeugung betrachten wir diese drei als untrennbare Einheit und verneigen uns davor.

Dieser Huldigungsvers hat im Grunde sehr tiefgründige Bedeutung. Gedanken an Seine Heiligkeit den Dalai Lama mögen aufkommen, der von Buddhisten im allgemeinen als eine Verkörperung von Chenresig, also des Mitgefühls, angesehen wird. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, was eine solche Verkörperung bedeutet, denn wenn es heißt, daran als Tatsache zu glauben, ist es nicht angemessen, dass der Glaube nur auf Aberglauben beruht oder wir uns mit der Einstellung zufrieden geben „Ich weiß zwar nicht, was das eigentlich bedeutet, aber ich glaube es eben.“ Solch ein Glaube ist nicht sehr tiefgreifend und nicht sehr stabil. Ich denke, es ist nötig zu verstehen, was Mitgefühl ist, und insbesondere, was großes Mitgefühl ist, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wer Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist und was er tut, und durch dieses Verständnis eine Wertschätzung seiner Qualitäten zu entwickeln.

Wichtig ist auch, ein gewisses Verständnis davon zu haben, was Buddha-Natur ist und welche Bedeutung es hat, die Buddha-Natur im spirituellen Meister zu sehen. Wofür steht Avalokiteshvara? Er steht für die Buddha-Natur des Mitgefühls, die in jedem vorhanden ist, nämlich die grundlegende Natur des Geistes, warmherzig sein und sich um andere kümmern zu können. Wie auch alle anderen Faktoren der Buddha-Natur gibt es Mitgefühl sowohl auf der grundlegenden Ebene als auch auf der Ebene des Pfades und der resultierenden Ebene.

  • Die grundlegende Ebene – was wir alle natürlicherweise haben, wie z.B. der Instinkt, uns um unsere Nachkommen zu kümmern
  • Die Ebene des Pfades – was wir entwickeln, indem wir z.B. diese grundlegende Ebene des Mitgefühls durch buddhistische Übungen kultivieren
  • Die resultierende Ebene – die eines Buddha.

Einen Einblick in diese drei Ebenen können wir im Zusammenhang mit den Qualitäten der höchsten Meister gewinnen. Der spirituelle Meister hilft uns, durch den Prozess der Entwicklung von Mitgefühl selbst diese drei Ebenen zu durchschreiten. Wenn wir das verstehen, können wir uns mit vollem Vertrauen vor dem Mitgefühl, den höchsten Lehrern und dem Yidam Avalokiteshvara verneigen, in der Überzeugung, dass sie untrennbar sind.

Damit bringt Atisha an dieser Stelle etwas von den Komponenten des Tantra mit ein, allerdings auf recht subtile und nicht so offensichtliche Weise. Und genau so sollte es auch sein. Mein eigener Lehrer, Geshe Ngawang Dhargye, von dem ich diese Unterweisungen erhalten habe, hat immer betont, dass wir an dem Huldigungsvers eine Menge erkennen können. Wir sollten nicht denken, dass es sich nur um eine Art Ornament am Anfang eines Textes handelt und schnell darüber hinweggehen, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken.

Vers 1: Der für die Meditation über Bodhichitta erforderliche Geisteszustand

Wenn man diesen Text genauer betrachtet, wird ersichtlich, dass die wesentlichen Punkte darin auf Shantidevas Unterweisungen in seinem Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ (Skt.  „Bodhicharyavatara“ ) zurückgehen. Auch lässt sich feststellen, dass viele der Punkte in den späteren Lehren des Geistestrainings, insbesondere in der „Schulung der Geisteshaltung in acht Versen“ und der „Schulung der Geisteshaltung in sieben Punkten“, auf den Inhalten beruhen, die wir hier in Atishas Text finden. Atisha spricht in erster Linie darüber, wie man über Bodhichitta meditiert und wie man dies dann in die Praxis umsetzt.

Der Anfang lautet:

Ich will all meinen unentschlossenen Wankelmut aufgeben und es schätzen (lernen) von ganzem Herzen mit Ernsthaftigkeit zu praktizieren. Daher werde ich mich vollständig von Schläfrigkeit, Dumpfheit und Faulheit befreien, und mich stets mit Tatkraft bemühen.

Unentschlossenen Wankelmut beseitigen in Bezug darauf, was Bodhichitta ist und wie man darüber meditiert

Um über Bodhichitta meditieren zu können, müssen wir zunächst einmal die Anleitungen darüber hören. Wir müssen jegliche Unsicherheit in Bezug darauf beseitigen, wo diese Lehren zu finden sind. Sie stammen aus den so genannten „Drei Körben“ (Skt. Tripitaka) der Worte Buddhas. Es ist wichtig, die Lehre Buddhas korrekt und sorgsam zu hören oder zu lesen und dann darüber nachzudenken, um sie richtig zu verstehen. Der Zweck davon ist, unentschlossenen Wankelmut in Bezug darauf zu beseitigen, auf welche Lehren man sich verlassen kann, wie diese Lehren lauten und was Bodhichitta ist.

Es ist unerlässlich, genau zu wissen, dass Bodhichitta ein Geisteszustand ist, der auf Erleuchtung ausgerichtet ist, und zwar nicht auf die Erleuchtung des Buddha oder eine unbestimmte allgemeine Erleuchtung, sondern auf unsere eigene zukünftige Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, aber stattfinden kann, nämlich aufgrund der Ursachen dafür: der Faktoren unserer Buddha-Natur. Bodhichitta ist also auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung ausgerichtet mit der Absicht, sie zu erlangen. Was uns dazu motiviert, sie zu erlangen, sind Liebe und Mitgefühl, der Wunsch, allen Wesen zu nützen und ihnen zu helfen, ihr Leiden loszuwerden. Das ist die zweite Absicht, die mit Bodhichitta einhergeht. Allen anderen vollständig zu nützen ist das, was wir zu tun beabsichtigen, wenn wir diese Erleuchtung erreicht haben.

Es ist also erforderlich, allen unentschlossenen Wankelmut abzulegen in Bezug darauf, was eigentlich das Thema der Meditation ist, nämlich Bodhichitta, und wie man darüber meditiert, d.h. welches der Geisteszustand ist, der hervorgebracht werden soll. Davon müssen wir zunächst hören oder lesen, dann darüber nachdenken und es verstehen. Das ist natürlich unabdingbar – wie sollte es sonst möglich sein, darüber zu meditieren?

Über Bodhichitta zu meditieren und diesen Geisteszustand tatsächlich hervorzubringen ist nicht so einfach. Es ist nicht so offensichtlich, was wir in der Meditation eigentlich tun und worauf wir uns dabei konzentrieren. Das ist keineswegs offenkundig und ganz und gar nicht einfach. Wie konzentriert man sich auf die eigene, noch nicht stattfindende Erleuchtung? Dafür brauchen wir etwas, was diese Erleuchtung repräsentiert. Sie kann durch einen Buddha, einen spirituellen Meister, eine bildliche Darstellung versammelter spiritueller Meister in Form einer baumartigen Überlieferungsstruktur, oder einen so genannten Yidam, eine Buddha-Form repräsentiert werden. Sie kann durch vielerlei Formen repräsentiert werden.

Möglicherweise fragen wir uns, wie Debatte und Meditation über Bodhichitta zusammenpassen, doch der Zweck der Debatte besteht immer darin, zögerliche Ungewissheit zu beseitigen. Um auf richtige Weise meditieren zu können, müssen wir wissen, worauf man den Geist dabei konzentrieren muss und wie er das erfassen soll, des Weiteren, welche Geistesfaktoren diesen Geisteszustand begleiten - etwa Liebe, Mitgefühl, eine bestimmte Absicht, Motivation und dergleichen mehr -, und wir müssen wissen, wie man diesen Geisteszustand hervorbringt. Man debattiert darüber, um jegliche Ungewissheit darüber zu beseitigen.

Viele Menschen verwechseln Bodhichitta mit Mitgefühl. Sie denken, sie würden über Bodhichitta meditieren, während sie eigentlich über Liebe und Mitgefühl mit allen Wesen meditieren. Darüber zu meditieren, dass alle Wesen glücklich sein und die Voraussetzungen dafür haben mögen, und dass alle Wesen frei von Leiden und den Ursachen dafür sein mögen, ist Teil der Grundlage für Bodhichitta und der entsprechende Wunsch begleitet Bodhichitta dann auch weiterhin, ist aber nicht dasselbe wie Bodhichitta. Und was Mitgefühl betrifft, so meditieren viele Menschen zwar über Mitgefühl, aber nicht über großes Mitgefühl. Es ist notwendig, sich von jeglichem unentschlossenen Wankelmut bzw. jeglicher Ungewissheit bezüglich dieser Punkte zu befreien.

Denn wenn wir keine Gewissheit darüber haben oder unsicher sind, was in der jeweiligen Meditation eigentlich zu tun ist, stoßen wir auf das Hindernis, dass der Geist abschweifen wird. Wir überlegen hin und her und fragen uns: „Ist Bodhichitta nun dies oder jenes?“, „Meditiere ich jetzt richtig oder mache ich etwas falsch?“ In dem Fall sind wir uns einfach noch nicht darüber im Klaren, was es eigentlich zu tun gilt. Indem wir dies erörtern und mit anderen debattieren, gewinnen wir nicht nur die Überzeugung, was Bodhichitta ist und wie man darüber meditiert, sondern auch die Überzeugung, dass die Praxis fundiert ist. Wir müssen die zögernde Ungewissheit loswerden, ob dies nun die richtige Praxis ist, ob sie wirksam sein wird oder nicht usw. Mit all dem muss man sich in dieser ersten Phase befassen, in der man den Lehren zuhört, und insbesondere, indem man darüber nachdenkt. Erst dann kann man tatsächlich auf richtige Weise meditieren. Zuerst muss, wie man im Deutschen sagt, „alles klar“ sein, damit man wirklich korrekt über ein bestimmtes Thema meditieren kann. Sonst geschieht es, dass man zwar vorgibt zu meditieren, aber eigentlich nur da sitzt und Spielchen spielt. Dann wissen wir nicht genau, was wir da eigentlich tun, und werden nicht sehr weit kommen.

Von ganzem Herzen mit Ernsthaftigkeit Bodhichitta zu praktizieren hängt von aufrichtiger Motivation ab

Nachdem wir den Lehren aufmerksam zugehört, darüber nachgedacht und uns von unentschlossenem Wankelmut befreit haben, können wir es schätzen, von ganzem Herzen mit Ernsthaftigkeit zu praktizieren. Das bezieht sich auf die Meditation, in der wir nun tatsächlich Bodhichitta zu einer Gewohnheit entwickeln. Wir bringen diesen Geisteszustand immer wieder hervor und verstärken ihn weiter. Von ganzem Herzen mit Ernsthaftigkeit zu praktizieren bedeutet, dass unsere Bemühungen, Bodhichitta zu entwickeln, völlig aufrichtig sind und wir mit ganzem Herzen bei der Sache sind.

Ob wir mit ganzem Herzen bei der Sache sind, hängt von der Motivation ab. Wenn unsere Motivation wirklich aufrichtig ist, dann werden wir auch aufrichtige Weise praktizieren. Wir werden die Praxis nicht nur aus Pflichtgefühl durchführen oder weil wir sonst Schuldgefühle haben oder dergleichen. Es ist also wirklich wichtig, eine Motivation zu haben. Für die Zeiten, in denen sie nicht intensiv ist – was an vielen Tagen der Fall sein wird -, brauchen wir Methoden, die uns helfen, sie wieder aufzubauen.

Viel hängt auch davon ab, mit wem wir Umgang pflegen – davon, ob die Leute in unserem Umfeld unsere Praxis unterstützen. Wenn man eine freundschaftliche, warmherzige Gemeinschaft von Menschen hat, die sich mit etwas Ähnlichem beschäftigen, und zudem spirituelle Lehrer in der Nähe hat usw., ist das hilfreich dafür, eine starke Motivation aufrechtzuerhalten. Auch der Umgang mit Menschen, die intensiv leiden, kann unsere Motivation enorm stärken. Wir können sowohl von „oben“, etwa durch große Meister, als auch von „unten“, durch diejenigen, die erbärmlich leiden, Inspiration gewinnen. Wie Shantideva sagt: Erleuchtung kommt gleichermaßen durch die Güte der Buddhas und die fühlenden Wesen – die begrenzten Wesen – zustande.

(VI.113) Wenn das Erlangen der Dharma-(Verwirklichungen) eines Buddhas gleichermaßen den begrenzten Wesen und den Siegreichen zu verdanken ist, warum empfinde ich dann für die begrenzten Wesen nicht die gleiche Wertschätzung wie für die Siegreichen?

Klarstellen, wie man über Bodhichitta meditiert

Die Ausrichtung auf unsere individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat

Unsere Erleuchtung ist etwas, was dem zukünftigen Kontinuum gültig zugeschrieben werden kann. Unsere zukünftige Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, kann der Fortsetzung unseres Geisteskontinuums, die sich in die Zukunft erstreckt, aufgrund der Kontinuität der Faktoren der Buddha-Natur gültig zugeschrieben werden. Wenn die erforderlichen Ursachen geschaffen werden, nämlich die beiden Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins usw., dann wird dieser erleuchtete Zustand, der stattfinden kann, mit Sicherheit stattfinden. Diese Überzeugung ist notwendig.

Um uns auf diese Erleuchtung zu konzentrieren bzw. auszurichten, brauchen wir etwas, das sie repräsentiert, sagen wir eine Buddha-Form bzw. einen Buddha. Diese Buddha-Form oder der Buddha repräsentiert die zukünftige Erleuchtung, die unserem Geisteskontinuum gültig zugeschrieben und aufgrund der Faktoren der Buddha-Natur erreicht werden kann. Das ist es, worauf wir unseren Geist ausrichten. Dieses Gewahrsein wird zudem von Liebe, Mitgefühl und der Absicht begleitet, dieses Ziel zu erreichen, und sobald wir es erreicht haben, allen anderen auf vollkommene Weise zu helfen. Es gibt eine ganze Reihe von Geistesfaktoren, die damit einhergehen.

Ebenso, wie wir gleichzeitig denken, sehen und hören können, können wir uns mehrerer Erkenntnisobjekte gleichzeitig bewusst sein – allerdings nicht aller mit dem gleichen Maß an Aufmerksamkeit. Sowohl Liebe als auch Mitgefühl sind auf fühlende Wesen gerichtet. Liebe richtet sich auf sie mit dem Wunsch, dass sie glücklich sein mögen, während Mitgefühl auf ihr Leiden gerichtet ist mit dem Wunsch, dass es aufhören möge. Diese beiden Geisteszustände bringen wir der Reihe nach hervor, einen nach dem anderen, weil sie ihr Objekt auf unterschiedliche Weise erfassen. Wenn wir dann, beruhend auf Liebe und Mitgefühl, das Ziel von Bodhichitta entwickeln, ist unser Fokus unsere Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, und wir erfassen sie kognitiv mit dem Wunsch, sie zu erreichen. Ebenfalls auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung ausgerichtet sind die beiden Absichten, 1 diese Erleuchtung zu erreichen und 2 damit anderen zu nutzen. Dabei ist unsere hauptsächliche Aufmerksamkeit auf Bodhichitta gerichtet, während Liebe und Mitgefühl, obwohl immer noch präsent, nicht der Hauptfokus sind. Liebe und Mitgefühl verleihen dem Bodhichitta-Ziel gewissermaßen seine gefühlsmäßige Note, aber der Fokus ihrer Aufmerksamkeit – alle begrenzten Wesen – erscheint unserem Geist nicht.

Wie gesagt sind lange Zeit und eine Menge Gedanken und Erörterungen erforderlich, um wirklich eine klare Vorstellung davon zu bekommen, was es heißt, über Bodhichitta zu meditieren. Einfach zu sagen: „Ich setze mich jetzt hin und meditiere über Bodhichitta“ reicht nicht aus, wenn wir nicht wissen, was um alles in der Welt wir dabei machen sollen.

Auch sind natürlich all die Schritte zu tun, mit denen wir den Geist dazu bringen, Bodhichitta tatsächlich aufrichtig zu empfinden, indem wir Gefühle von Liebe und Mitgefühl aufbauen und verstärken. Es gibt eine Reihe von Methoden, die wir dafür anwenden können: die Meditation über die siebenteilige Anweisung über Ursachen und Wirkungen, die Übung, unsere geistigen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber gleichzusetzen und auszutauschen, oder die elfteilige Übung, die beides miteinander kombiniert.

Eines möchte ich noch hinzufügen, das von Bedeutung für das Verständnis ist, was es heißt, großes Mitgefühl zu haben. Wenn wir nach Bodhichitta streben und unser Ziel die zukünftige Erleuchtung ist, müssen wir natürlich auch wissen, was Erleuchtung ist. Wir müssen wissen, was das bedeutet und welches die Qualitäten dieses Zustands sind. Dafür sind Buddha-Formen oder ein Buddha sehr gute Repräsentationen. Wenn wir eine der Buddha-Formen oder einen Buddha visualisieren, können wir uns damit all die Qualitäten vor Augen führen, die ein erleuchtetes Wesen hat. Und in Verbindung mit großem Mitgefühl tun wir das natürlich mit der Absicht, ausnahmslos jedem zu helfen. Es geht dabei um zahllose Wesen, das Ausmaß und die Reichweite sind also unermesslich groß.

Sobald wir schätzen gelernt haben, was der geistige Zustand von Bodhichitta eigentlich ist – wie unermesslich umfassend er ist -, beginnen wir, Shantidevas erstes Kapitel würdigen zu können, in dem er Bodhichitta preist. Andernfalls bleibt das bloß hübsch klingende Versdichtung.

(I.25) Dieser außergewöhnliche, juwelengleiche Geist, der auf das Wohl der begrenzten Wesen gerichtet ist, der in anderen noch nicht einmal zu ihrem eigenen Wohl erscheint, kristallisiert sich als ein unvergleichliches Wunder.

(I.26) Wie kann die positive Kraft dieses juwelengleichen Geistes, der das Glück aller umherwandernden Wesen hervorbringt, und das Heilmittel für die Leiden der begrenzten Wesen ist, denn überhaupt ermessen werden?

Wie ist es möglich, sich auf etwas auszurichten, das noch nicht stattgefunden hat?

Vielleicht fragen Sie sich, wie man sich auf etwas ausrichtet, das noch nicht stattgefunden hat. Lassen Sie mich ein Beispiel dafür geben, denn dies ist ein wichtiger Aspekt für das Verständnis, was Bodhichitta ist. Unsere zukünftige Erleuchtung ist etwas, das noch nicht stattgefunden hat, genauso wie der morgige Tag. Der morgige Tag hat noch nicht stattgefunden – aber existiert er? Gibt es ein Morgen? Wie konzentrieren wir uns auf morgen und planen den Tag, wenn „morgen“ nicht auf irgendeine Weise existiert? Worauf richten wir uns aus, wenn wir an morgen denken? Wir richten uns dabei ja nicht auf gar nichts aus. Das sind Punkte über die man nachdenken und diskutieren kann um das Verständnis zu fördern, wie man sich auf Zukünftiges ausrichten kann.

Etwas, das noch nicht stattfindet, ist ein Negierungs-Phänomen

Um die Frage zu beantworten, wie wir uns auf etwas ausrichten, das noch nicht stattgefunden hat, ist es sehr wichtig, die Darstellung der buddhistischen Philosophie bezüglich gültiger Phänomene und die Darstellung von Bestätigung- und Negierung-Phänomenen zu verstehen. Denn unsere abendländischen Kategorien von existierenden und nicht existierenden Dingen sind in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Gemäß der buddhistischen Darstellung kann etwas, wenn es existiert, auch gültig erkannt werden, entweder begrifflich oder unbegrifflich. Wenn etwas nicht existiert, kann es auch nicht gültig erkannt werden.

Unter den Phänomenen, die gültig erkannt werden können, gibt es Bestätigungs- und Negierungs-Phänomene. Unsere zukünftige Erleuchtung ist ein Bestätigungs-Phänomen. Genauso, wie wir einen Mungo sehen können, ohne je zuvor einen gesehen zu haben, können wir uns auch auf unsere Erleuchtung ausrichten, ohne dass wir das vorher schon getan haben müssten. Wenn wir uns auf diese Erleuchtung ausrichten, richten wir die Aufmerksamkeit auf ein Bestätigungs-Phänomen. Dieses Bestätigungs-Phänomen wird einem Aspekt seiner Ursachen zugeschrieben, nämlich unseren Netzwerken von positiver Kraft und tiefem Gewahrsein. Sie können Erleuchtung hervorbringen, wenn alle erforderlichen Ursachen und Umstände dafür vollständig sind. Diese Erleuchtung, die so ihren Ursachen zugeschrieben wird, kann gültig erkannt werden, genauso, wie „morgen“, zugeschrieben auf der Grundlage von heute, gültig erkannt werden kann. Was jener zukünftigen Erleuchtung außerdem zugeschrieben werden kann, ist ihr Noch-nicht-Stattfinden. Ihr Noch-nicht-Stattfinden ist ein Negierungs-Phänomen. Was dadurch negiert wird, ist: dass sie gegenwärtig stattfindet. Um ihr Noch-nicht-Stattfinden gültig erkennen zu können, müssen wir erkennen, was gegenwärtig stattfindet, sonst können wir es nicht negieren. Wir müssen z.B. wissen, dass immer noch heute ist, um zu erkennen, dass der morgige Tag noch nicht eingetreten ist.

Wir können unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung durch eine Buddha-Form darstellen und dieser Form gültig die Bezeichnung „ich“ zuschreiben, aber nur, wenn wir das Noch-nicht-Stattfinden unserer selbst als Buddha gültig erkennen. Andernfalls, wenn wir meinen, unsere Buddhaschaft würde bereits gegenwärtig stattfinden, täuschen wir uns.

Die Ausrichtung in der Bodhichitta Meditation auf etwas, das noch nicht stattgefunden hat, ist keine Ausrichtung auf etwas, das nicht existiert

Aufgrund dieser Zusammenhänge betone ich, dass man unentschlossenen Wankelmut beseitigen muss. Sonst sagt man nach einer Weile: „Ich weiß eigentlich gar nicht recht, was ich tue, wenn ich dasitze und versuche über Bodhichitta zu meditieren. Richte ich dabei die Aufmerksamkeit auf etwas, das es gar nicht gibt?“ Dann wird es ein verrücktes Unterfangen.

Was Atisha betont, ist: Wenn wir einspitzige Meditation üben und sie korrekt ausführen wollen, müssen wir uns von unentschlossenem Wankelmut befreien – unsere Unsicherheit in Bezug darauf, was diese Meditation ist, wie man sie ausführt usw. Sonst geschieht es, wie im Kommentar erwähnt ist, dass unser Geist abschweift: „Mache ich das richtig? Was geht da vor? Vielleicht gibt es das gar nicht.“ Zu geistigem Abschweifen kommt es auch, wenn wir nicht überzeugt sind, dass wir den betreffenden Zustand tatsächlich erreichen können. Atisha hat also hier in wenigen Worten sehr tiefgründige Anweisungen gegeben, wie man meditiert.

Diese Diskussion über Bodhichitta, die wir hier führen, ist sehr wichtig. Es ist notwendig, dass wir uns darüber im Klaren sind, was Meditation über Bodhichitta ist. Wenn wir nicht ein gewisses Ausmaß an Klarheit darüber haben, wirkt das alles etwas befremdend.

Andere Hindernisse für die Meditation beseitigen

So sind wir also mit ganzen Herzen bei der Sache, wenn wir praktizieren. Nachdem wir erfahren haben, wie man Bodhichitta tatsächlich hervorbringt und imstande sind, die Ausrichtung auf diesen Geisteszustand aufrechtzuerhalten, müssen wir noch Hindernisse beseitigen, die in der Meditation selbst auftauchen. Die zweite Hälfte des Verses lautet: Daher werde ich mich vollständig von Schläfrigkeit, Dumpfheit und Faulheit befreien. Über geistiges Abschweifen aufgrund von unentschlossenem Wankelmut haben wir bereits gesprochen; nun befassen wir uns mit den Hindernissen, die mit Trägheit zu tun haben.

Schläfrigkeit und Dumpfheit

Die offensichtlichste Art von Trägheit ist Schläfrigkeit. In der Meditation einzunicken hindert natürlich die Meditation. Bei dieser Art Trägheit zieht sich das Bewusstsein von den Sinneskräften zurück. Das ist der grundlegende Vorgang, der Schlaf einleitet. Dumpfheit ist eine subtilere Art von Trägheit. Im Falle von Dumpfheit fühlen sich Körper und Geist sehr schwer an. Die dritte Art von Trägheit – die noch subtiler ist – ist Faulheit. Faulheit ist zwar eigentlich nicht eine Art von geistiger Trägheit, liegt dieser aber zugrunde. Wenn wir darauf hinarbeiten, geistige Hindernisse zu beseitigen, beschäftigen wir uns zuerst immer mit dem offensichtlichsten und dann mit den subtileren. In diesem Zusammenhang ist Faulheit das subtilste Hindernis.

Drei Arten von Faulheit

Shantideva beschreibt in seinem Text die Faulheit sehr detailliert. Es gibt drei Arten von Faulheit.

Die erste davon ist Lethargie. Lethargie bedeutet, dass ein Mangel an Energie und Begeisterung besteht – wir haben keine Lust, irgendetwas zu tun und daher schieben wir es auf. Shantideva erklärt, dass es dafür drei Ursachen gibt:

  • Apathie hinsichtlich unserer sich wiederholenden Probleme – ein Mangel an Interesse und Teilnahme. Wenn wir abgestumpft sind, ist uns alles egal und deshalb werden wir lethargisch, wir mögen uns zu nichts aufraffen.
  • Müßigen Vergnügungen einen angenehmen Geschmack abzugewinnen – Gefallen daran zu finden, einfach müßig herumzusitzen. Das macht lethargisch, sodass wir wiederum nichts tun mögen.
  • Sich nach Schlaf als sicherem Rückzugsort zu sehnen – man kann nicht mit dem umgehen, was geschieht, und will sich nur noch ins warme, gemütliche Bett flüchten.

Die zweite Art der Faulheit ist sich an Belanglosigkeiten klammern. Beispiele dafür sind: einfach die ganze Zeit bloß über unwichtige Dinge zu schwätzen und an allen möglichen Arten von Betriebsamkeit, sei es im Haus oder wo auch immer, zu hängen – was im Grunde genommen eine Ausrede dafür ist, nichts Konstruktives zu tun. In Verbindung damit steht Aufschieben – etwas auf die lange Bank schieben oder in die Länge ziehen, weil wir nicht von Belanglosigkeiten lassen wollen.

Die dritte Art Faulheit besteht darin, entmutigt zu sein und sich daher selbst geringzuschätzen. Man denkt: „Ich kann das nicht. Ich bin dazu nicht fähig“, und deswegen versucht man es gar nicht erst. Das ist eine Form von Faulheit.

Tatkraft als Gegenmittel gegen Faulheit

Faulheit entgegengesetzt ist Tatkraft; oder mit anderen Worten „schwungvoller Elan”, oder „beherzter Mut”. Folglich lautet die letzte Zeile: Und mich stets mit Tatkraft bemühen. Tatkraft bzw. Ausdauer, wie Shantideva sehr gut erklärt, beruht auf mehreren Faktoren:

  • Feste Absicht – Schwung und Energie, auf der Grundlage einer festen Überzeugung, dass positive Handlungen grossen Nutzen bringen. Mit fester Absicht sind wir uns zutiefst bewusst: „Ich werde das tun, und ich werde nicht aufgeben!“
  • Standhaftigkeit und Selbstachtung –. Standhaftigkeit ist die Qualität, unbeirrbar bei etwas zu bleiben. Sie beruht auf Selbstsicherheit, darauf, dass wir eine hohe Meinung von uns haben: Wir wissen, dass wir imstande sein werden, unser Vorhaben durchzuführen, und denken nicht schlecht von uns.
  • Begeisterung – Wir sind beglückt von dem, was wir tun. Und insbesondere weil das, was wir tun, etwas Konstruktives ist, macht es uns zunehmend Freude, unsere Tätigkeit fortzusetzen.
  • Loslassen – mit anderen Worten: Wir können unseren Griff lösen, wenn wir müde sind und eine Ruhezeit brauchen. Wenn wir uns zu sehr antreiben, zu fanatisch sind, verausgaben wir uns und brennen aus. Von unserem Tun abzulassen ist auch angemessen, wenn wir eine bestimmte Phase abgeschlossen haben. Es ist wichtig zu wissen, wann man aufhören und zur nächsten Stufe übergehen muss. Das sind die beiden Aspekte des Loslassens.

Shantideva erwähnt noch zwei weitere Aspekte:

  • Bereitwillig annehmen bedeutet, die Tatsache zu akzeptieren, dass der Weg Schwierigkeiten mit sich bringen wird. Es ist erforderlich, die Realität zu akzeptieren, dass es so ist, und sich diesbezüglich nichts vorzumachen, indem man denkt, es würde angenehm und einfach. Es ist unerlässlich, die Schwierigkeiten zu akzeptieren, die auftreten werden, mit anderen Worten: eine realistische Einstellung zu haben, und
  • die Sache in die Hand nehmen – wir übernehmen die Kontrolle über uns selbst: „Ich werde das tatsächlich machen.“
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