Den Leiden des Samsara entsagen

Die Leiden, die Lebewesen in den höheren Daseinsbereichen erfahren

Ein wirklich spiritueller Mensch oder Dharma-Praktizierender ist jemand, der daraufhin arbeitet, dass sich seine Handlungen in zukünftigen Leben positiv auswirken, dass sich seine Handlungen also in seinen zukünftigen Wiedergeburten, die er annehmen wird, positiv widerspiegeln werden, und auch noch darüber hinaus positiv wirken werden. Ein solcher Mensch wird sich anfangs um ethisches Verhalten bemühen, das heißt sich von den zehn destruktiven Handlungen zurückhalten. Solche Menschen werden sich in konstruktiven Handlungen üben, um so eine bessere Wiedergeburt und so weiter zu erreichen. Diese Menschen haben eine anfängliche Ebene der Motivation. Durch die Zuflucht, dass heißt durch die sichere und positive Richtung, die sie in ihrem Leben einschlagen, wird ein Mensch in der Tat eine Wiedergeburt als Mensch oder als Gott erlangen. Aber sich einfach nur damit zufrieden zu geben, ist überhaupt nicht genug. Das ist deshalb nicht genug, weil ein Mensch, der als Mensch oder als Gott wieder geboren wird, sich dennoch in einer zwanghaften Art von Existenz befindet, und auch die Art von Glück, die der Mensch in diesem Bereich erleben wird, ist eine weltliche und vergängliche Form des Glücks.

Tatsächlich sind all diese Zustände, die man im Bereich der Menschen und Götter erfahren wird, nur weitere Beispiele wahrer Leiden und wahrer Probleme. Auf der Grundlage einer Wiedergeburt als Mensch oder Gott, ist es einem möglich, weiter auf dem Pfad voran zu schreiten und einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand, einen Zustand von Shamatha oder geistiger Ruhe zu erlangen. Und auf der Grundlage eines solchen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustandes, ist es einem möglich, in einer der höheren Existenzbereiche wiedergeboren zu werden. In einem solchen höheren Existenzbereich, wenn wir beispielsweise auf der Ebene der ätherischen Körperformen (Bereich der Form) wiedergeboren werden, sind wir beispielsweise frei von jenen manifesten störenden Emotionen oder Geisteshaltungen, die mit der Ebene des sinnlichen Verlangens (Bereich des Begehrens) verbunden sind. Gleichermaßen haben wir keine störenden Emotionen oder Geisteshaltungen, die mit der Ebene der ätherischen Formen verbunden sind, wenn wir auf der Ebene formloser Wesen (dem formlosen Bereich) wiedergeboren werden. Während wir auf diesen Existenzebenen der verschiedenen Götterbereichen höher und höher steigen, werden die Zustände auf jeder Ebene zunehmend feiner. Zum Beispiel besteht der Boden einer solchen Existenzebene aus Juwelen. Die Körper der verschiedenen Wesen dort sind bezaubernd und wunderschön, und die verschiedenen unterscheidenden Merkmale werden immer wunderbarer, umso höher wir aufsteigen.

Auch wenn wir in einem dieser höheren Existenzbereiche, in denen alles so lieblich und gefällig ist, geboren werden, befinden wir uns doch noch immer in einer zwanghaften Form von Existenz. Wir müssen noch immer die unkontrollierbar sich wiederholenden Probleme von Samsara erfahren. Es könnte zum Beispiel sein, dass wir auf einer dieser höheren Ebenen wiedergeboren werden, aber dann die unkontrollierbar wiederkehrende Situation des Herabsinkens in eine Wiedergeburt auf einer niedereren Existenzebene eintritt. Dann werden wir möglicherweise abermals auf einer höheren Ebene wiedergeboren und so geht es dann auf und ab. Tatsächlich verbringen wir jedoch die meiste Zeit unseres Daseins in den verschiedenen schlechten Wiedergeburtszuständen. In solch schlimmen Zuständen wiedergeboren zu sein, ist überhaupt keine zufrieden stellende Situation. Eine solche Situation ist beispielsweise mit dem Erklimmen der Treppen in einem hohen Wolkenkratzer vergleichbar: Wenn wir oben angekommen sind, dann bleibt als Einziges, was wir noch tun können, dass wir wieder die Treppen hinab steigen.

Wir können erkennen, dass eine Wiedergeburt als Mensch oder Gott überhaupt keine große Essenz besitzt und nur unkontrollierbar sich wiederholende Probleme bereitet. Auf diesem Verständnis und der Verwirklichung basierend, könnte ein Zweifel in uns aufkommen, dass es vielleicht nicht notwendig ist, als Mensch oder Gott wiedergeboren zu werden, und dass es nicht nötig sei, die Ethik einzuhalten, sich der zehn destruktiven Handlungen zu enthalten, um dadurch als Mensch oder Gott wiedergeboren zu werden. Der Kernpunkt ist aber nicht, sich lediglich mit einer dieser besseren Arten von Wiedergeburt zufrieden zu geben, sondern sich zu wünschen, dass man eine solche Wiedergeburt erlangen möge, um dadurch besser in der Lage zu sein, anderen Lebewesen zu nützen und selbst weiter spirituellen Fortschritt zu machen. Wir werden nicht in der Lage sein, anderen Wesen von Nutzen zu sein, noch selbst weiter Fortschritte auf dem Pfad zu machen, wenn wir eine solche Wiedergeburt nicht erlangen.

Die äußerst günstigen Umstände, die wir zur Verfügung haben, wenn wir eine Wiedergeburt als Mensch erlangen

Wenn wir als Mensch wiedergeboren werden, ein langes Leben haben, große körperliche Kraft besitzen, einen starken, positiven Einfluss auf andere haben und großen Reichtum besitzen, der uns voll zur Verfügung steht, dann können all diese Umstände es uns gestatten, anderen Lebewesen besser von Nutzen zu sein. Wenn wir hingegen nur eine kurze Lebensspanne zur Verfügung haben, dann wird es sehr schwierig sein, all unsere spirituellen Übungen und Studien bis zum Ende durchzuführen, auch wenn wir intensiv an der spirituellen Praxis des Dharma interessiert sind und uns ihr gänzlich hingeben. Wenn wir an ernsthaften Krankheiten oder körperlichen Gebrechen leiden, dann wird uns das gleichfalls sehr behindern. Es könnte uns auch vom Nehmen der Roben abhalten, also davon, ein Mönch oder eine Nonne zu werden. Daher ist es auch sehr wichtig, eine gute Gesundheit zu haben.

Ferner werden wir, wenn wir in eine gute Familie wiedergeboren worden sind und eine sehr einflussreiche Persönlichkeit sind, natürlicherweise nicht nur günstige Umstände zur Verfügung haben, um weiter Fortschritte auf dem spirituellen Pfad zu machen, sondern uns auch in einer Position befinden, in der anderen Menschen uns zuhören werden. Wir sind dann möglicherweise in der Lage, anderen Menschen einen Ansporn auf ihrem eigenen spirituellen Weg zu geben. Daher ist es notwendig, wenn wir diese Art menschlicher Wiedergeburt wieder erlangen wollen, die verschiedenen Ursachen dafür aufzubauen, eine solche Wiedergeburt als Mensch hervorzubringen. Die Ursachen für eine solche Wiedergeburt als Mensch umfassen, dass wir großen Respekt vor unseren Eltern und all denen haben, die herausragende Fähigkeiten und gute Eigenschaften besitzen.

Haben wir zudem einen sehr gut aussehenden Körper und eine angenehme Erscheinung, werden andere sich ganz natürlicher Weise zu uns hingezogen fühlen. Andere Menschen werden dann zu uns kommen und hören wollen, was wir zu sagen haben. Die Ursachen für eine solch angenehme Erscheinung sind beispielsweise, dass wir über Geduld und Toleranz meditieren, und dass wir uns es zur Gewohnheit machen, uns in Geduld und Toleranz zu üben und niemals wütend zu werden, und zudem den verschiedenen Repräsentationen des Buddha Nahrung, Blumen, Schmuck und Kleidung darbringen. Ebenfalls müssen wir denen, die sehr arm oder krank sind, Nahrung und Kleidung zur Verfügung stellen. Auf diese Weise bauen wir die Ursachen für gutes Aussehen auf.

Besitzen wir eine große Widerstandsfähigkeit, geistige Willenskraft und Stärke, werden wir große Taten vollbringen können und fähig sein, all unsere Übungen und Bemühungen bis zum Ende durchzuführen. Die Ursachen dafür sind, dass wir verschiedene körperliche und geistige Handlungen durchführen, von denen andere Menschen sich nicht einmal vorstellen können, so etwas zu tun, und dass wir diese Handlungen bis hin zur Vollendung durchführen.

Es ist ebenfalls wichtig, glaubwürdig in Bezug darauf zu sein, was wir sagen, sodass andere ernst nehmen, was wir sagen, ganz gleich ob uns Menschen, Götter oder andere Wesen zuhören. Wenn wir glaubwürdig sind, so ermöglicht uns diese Glaubwürdigkeit, diese wir andere gut unterstützen können. Die Ursache für Glaubwürdigkeit ist, dass wir sehr ehrlich in all dem sind, was wir sagen, dass wir nicht lügen, keine grobe Sprache verwenden und nicht in anderer destruktiver Weise sprechen. So kann es beispielsweise zwei verschiedene Menschen geben, die genau dieselben Worte, mit genau derselben Bedeutung sagen; die Menschen werden aber dem einen Menschen zuhören und dem anderen Menschen nicht. Der Unterschied in Bezug darauf, wem die Menschen zuhören und wem nicht, ergibt sich durch die verschiedenen Arten der Handlungen, die diese Menschen in der Vergangenheit begangen haben. Der eine Mensch hat häufig gelogen, leere Worte und Geschwätz von sich gegeben – niemand möchte dem, was er oder sie zu sagen hat, Aufmerksamkeit schenken.

Es gibt all diese ursächlichen Handlungen, die diese guten Eigenschaften als Resultat hervorbringen. Daher ist es notwendig, alle Ursachen dafür aufzubauen, um mit einem menschlichen Körper, der all diese edlen Eigenschaften besitzt, wiedergeboren zu werden. So ist es wichtig, all diese ursächlichen Handlungen jetzt auszuführen, da es für uns sehr schwierig sein wird, diese Hindernisse für unsere spirituelle Praxis zu überwinden, wenn wir beispielsweise in eine Familie von Kriminellen, in einer kriminellen Gemeinschaft oder inmitten äußerst negativ handelnder Menschen wiedergeboren werden. Auch wenn wir selbst verschiedene ausgezeichnete Eigenschaften besitzen, ist es wichtig, frei von anderen Faktoren zu sein, die uns daran hindern könnten, unsere ausgezeichneten Eigenschaften vollständig zu nutzen. Um diese ausgezeichneten Eigenschaften hervorzubringen, müssen wir verschiedene Gebete darbringen wie: „Möge ich stets eine wertvolle menschliche Wiedergeburt erlangen, die mit all den positiven Eigenschaften und förderlichen Umständen ausgestattet ist. Möge ich mich immer in einer Position befinden, in der ich anderen Lebewesen helfen kann. Und möge ich niemals in irgendeinem meiner zukünftigen Leben als jemand wiedergeboren werden, der anderen Lebewesen großes Leid zufügt oder ihnen Probleme verursacht.“ Das ist die Art von Gebet, die wir sprechen können, wenn wir möchten, dass wir mit einem wertvollen menschlichen Körper wiedergeboren werden, der mit all den positiven Eigenschaften und förderlichen Umständen ausgestattet ist, die wir dann nutzen können.

Die Entschlossenheit, von Samsara frei zu sein

Wir sollten uns aber nicht bloß damit zufrieden geben, eine wertvolle menschliche Wiedergeburt, die mit all diesen positiven Eigenschaften ausgestattet ist, erlangt zu haben. Der Grund dafür, dass wir uns damit nicht zufrieden geben sollten, ist, dass eine solche Wiedergeburt als Mensch, ungeachtet wie prächtig so ein Leben auch sein mag, unkontrollierbar sich wiederholende Probleme in sich birgt. Tatsächlich gibt es ungeachtet dessen, wie gut uns eine solche Wiedergeburt als Mensch auch erscheinen mag, doch immer Probleme und vielerlei Arten von Leiden. Jede dieser unkontrollierbar sich wiederholende Situationen, in die wir hineingeboren werden könnten, also all die Situationen in Samsara, birgt in sich nichts als Probleme. Es ist notwendig, sich dessen bewusst zu sein und darüber nachzudenken: „Ganz gleich wie reich ich auch sein mag, ganz gleich wie viele positive Dinge ich in meinem Leben erleben, ich werde dennoch mit vielen Problemen ins konfrontiert sein.“ Wenn wir sehr ernsthaft über all die verschiedenen Probleme und Leiden, die es in Samsara gibt, nachdenken, so werden wir eine Geisteshaltung entwickeln, mit der wir uns wünschen, frei von all diesen Problemen und Leiden zu sein. Auf der Grundlage dieses starken Wunsches, frei von allen Problemen und Leiden zu sein, werden wir daran arbeiten, einen Zustand der Befreiung zu erlangen. Und dies ist wiederum etwas, das wir auf der Grundlage dieser wertvollen menschlichen Wiedergeburt, die wir jetzt erlangt haben, tun können.

Dieses Thema wird hier im Text durch den Vers behandelt:

5) Der Glanz einer zwanghaften Existenz, auch wenn er genossen wird, reicht nie aus, die Tore zu allen Problemen vermögen meinen Geist nicht zu sichern. Dieser Fallgruben gewahr, erbitte ich die Inspiration dafür, dass ich ein Um ein großes, lebendiges Interesse an der Glückseligkeit der Befreiung entwickeln mögen.

Die Fallgruben und Probleme von Samsara

Die erste Zeile „Der Glanz einer zwanghaften Existenz, auch wenn er genossen wird, reicht nie aus“, bezieht sich auf die erste Art des Problems, mit dem wir alle unausweichlich konfrontiert sind, ungeachtet in welcher Art von Wiedergeburt wir uns befinden. Das Problem besteht darin, dass es niemandem so vorkommt, als habe man nun genug, ungeachtet dessen, wie viele herrliche Dinge wir auch erfahren oder besitzen mögen – ganz gleich wie groß der Reichtum auch sein mag, den wir besitzen, ganz gleich wie vielen Vergnügungen wir auch nachgehen mögen – wir sind niemals zufrieden. Es ist niemals genug. Wir verhalten uns so, als ob wir sehr durstig wären und dann Salzwasser trinken würden. Jedoch: Ganz gleich wie viel Salzwasser wir auch trinken mögen, es wird niemals ausreichen, um unseren Durst zu löschen. Es handelt sich um die gleiche Situation, als wenn jemand eine Menge Spaß hat und Ähnliches. Da die Menschen in einer unkontrollierbar sich wiederholende Situation von Samsara gefangen sind, kommt es ihnen so vor, als hätten sie nie genug. Sie wollen immer mehr haben und noch mehr haben. Wenn jemand eine hohe Position bekleidet oder einen hohen Rang innehat, erscheint es dem Menschen so, als wäre ihr diese Position noch nicht hoch genug. Wir wollen immer nach einer noch höheren Position streben, und wenn wir diese erlangt haben, nach einer noch höheren. Das ist eine Situation, in der sich jeder befindet: Ganz gleich wie viel Reichtum die Menschen auch besitzen mögen, egal wie viele Dinge sie bereits angehäuft haben, ganz gleich, was sie sich bereits aufgebaut haben, jeder will immer noch mehr und noch mehr bekommen. Aber all diese Dinge werden sich letzten Endes einfach auflösen. Ganz gleich wie viele Dinge wir angesammelt oder aufgebaut haben, sie werden wieder auseinanderfallen.

Je mehr wir haben, umso mehr Probleme bringt uns das ein. Das wird auch hier im Text gesagt: Es handelt sich dabei um „die Tore zu allen Problemen“. Besitzen wir zum Beispiel das Vermögen von einer Million Pfund, dann haben wir auch all die Sorgen, die mit dem Erhalt des Vermögens verbunden sind, damit wir es nicht wieder verlieren und so weiter. Ein solches Vermögen bereitet uns einfach sehr viele Sorgen. Es gibt einige Menschen, die nur fünf oder sechs Pfund zur Verfügung haben – gerade genug um davon eine Mahlzeit kaufen zu können – und die damit ziemlich zufrieden sind. Ihr Geist ist frei. Hingegen gibt es einige Menschen, die eine Menge Geld haben, aber so sehr daran hängen, dass sie nicht einmal fünf oder sechs Pfund ihres Vermögens ausgeben wollen und dies genießen können. Je mehr wir daher haben, umso mehr Probleme gehen damit einher: Wir werden geizig und so weiter.

Er spielt dabei keine Rolle, wie viele Freunde und Bekannte wir um uns herum haben, das letztendliche Ergebnis davon, dass wir Freunde um uns herum versammeln, wird sein, dass ein jeder sich wieder verabschieden wird und ein jeder nach Hause geht. Die letztendliche Folge von all den Dingen, die sich zusammenfinden, die zusammenkommen, ist, dass die Menschen und Dinge sich wieder voneinander trennen werden, auseinander gehen werden und die Menschen und Dinge wieder ihre eigenen Wege gehen werden. Ganz gleich wie hoch wir steigen werden, das natürliche Endergebnis eines steilen Anstiegs ist, dass wir wieder hinunter steigen werden. Als zum Beispiel dieses Schloss, in dem wir uns heute hier befinden, errichtet wurde, handelte es sich um ein sehr schönes Gebäude, das dann im Laufe der Zeit zu Ruinen zerfallen ist. Solche vergänglichen und zerfallenden Dinge „vermögen meinen Geist nicht zu sichern“, wie hier im Text gesagt wird. Ganz gleich wie prächtig eine Sache möglicherweise auch sein mag, sie bietet uns nur Fallgruben und Fallstricke.

Es gibt verschiedene andere Probleme, die ebenso auftreten werden, ganz gleich in welchem Wiedergeburtszustand wir uns auch befinden mögen. Das wurde bereits erwähnt. Es gibt auch das Problem, dass es im Leben niemals irgendeine Form von Sicherheit gibt. So könnte jemand beispielsweise ein hochrangiger Beamter sein, der eine sehr wichtige Position innehat. Und doch könnte dieser Mensch am Ende seines Lebens ruiniert dastehen und sehr arm sein. Dies ist ein Verlauf, den wir auch innerhalb dieses Lebens wahrnehmen können. Ebenso kann ein Mensch, der zu einem früheren Zeitpunkt in unserem Leben ein Freund war, sich zu einem späteren Zeitpunkt im Leben zu unserem ärgsten Feind wandeln. In gleicher Weise kann auch jemand, den wir in der Anfangszeit unseres Lebens gehasst haben und den wir als unseren Feind betrachtet haben, sich ändern und später zu unserem besten Freund werden. Es gibt also auch keine Sicherheit in Bezug darauf, ob jemand für uns dauerhaft ein Freund oder ein Feind ist. Zusätzlich haben wir häufig große Schwierigkeiten, das zu bekommen, was wir gerne haben wollen, und für gewöhnlich tritt das Gegenteil von dem ein, was wir gerne hätten, auch wenn wir uns noch so sehr wünschen, dass eine bestimmte Situation eintreten möge oder dass wir bestimmte Dinge erhalten werden. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass all die Dinge, die wir nicht haben wollen, auf uns herabregnen.

Die Leiden, die wir bei einer Wiedergeburt als Mensch erfahren

Wenn wir lediglich über den Daseinsbereich der Menschen und die Leiden, die sie erfahren, sprechen, so gibt es dort all die Probleme, die damit einhergehen, dass man älter wird und als alter Mensch zu leben hat. Wenn wir beständig älter und älter werden, werden wir von immer schlimmeren Krankheiten heimgesucht. Das ist etwas, das wir alle mit unseren eigenen Augen feststellen können. Es gibt zudem auch die Leiden und Probleme, die mit dem Kranksein verbunden sind. Auch die Leiden und Probleme, die durch Krankheiten verursacht sind, können wir ebenfalls unmittelbar um uns herum wahrnehmen. Es gibt sehr viele kranke Menschen. Wenn wir selbst krank werden, erfahren wir, ebenso wie andere Menschen auch, all die Leiden und Frustrationen, die mit dem Kranksein einhergehen.

Es gibt zudem auch die schrecklichen Leiden, die uns zum Zeitpunkt unseres Todes befallen können. Ganz gleich wie gut die Medizin auch sein mag, die uns im Sterben zur Verfügung steht, oder wie gut die Ärzte im Krankenhaus auch sein mögen, in dem wir uns zur Todeszeit vielleicht befinden, so kann uns doch nichts und niemand dann helfen. Beim Sterben sind die Frustration und das Leiden, das wie erleben, die schlimmste Art von Leiden, die wir überhaupt in unserem Leben erfahren können. Gäbe es so etwas wie zukünftige Wiedergeburt nicht, so wäre das ja in Ordnung. Wenn wir dann sterben würden, so wäre unser Tod dann das Ende von allen Leiden; in Wirklichkeit ist das aber nicht der Fall. Es gibt zukünftige Wiedergeburten. Wir haben eine solche Wiedergeburt angenommen.

Bevor wir wiedergeboren werden, sterben wir, und sofort danach treten wir in den Zwischenzustand, den Bardo, ein. Dort erleben wir sehr viele erschreckende Dinge, wenn wir in unserem Leben viel negatives Potenzial aufgebaut haben. Wir werden vielerlei Ängste erleben und fürchterlich leiden. Ganz gleich wie sehr wir in unserem Leben dadurch um materielle Sicherheit bemüht haben, dass wir um uns herum viel Reichtum und Besitz angehäuft haben, so werden wir all diesen Reichtum und Besitz zum Zeitpunkt unseres Todes hinter uns lassen müssen. Wir können nichts mit uns nehmen – keine Freunde, keine Gefährten oder Verwandte, niemand kann mit uns kommen. Wir müssen ganz alleine in die Zwischenzustand des Bardo eintreten. Wenn wir unser ganzes Leben im Wesentlichen damit verbracht haben, viel negatives Potenzial aufzubauen, werden wir dieses negative Potenzial in Form von außerordentlich Furcht einflößenden Erfahrungen erleben. Das Leiden, das wir dort in Zwischenzustand erfahren werden, wird sehr schlimm sein.

Die Wesen, die sich in diesem Zwischenzustand befinden, werden die Gestalt eines Menschen in der Größe eines ungefähr achtjährigen Kindes haben. Der Zwischenzustand dieses Lebens ist bereits vergangen. Das war der Zeitraum bevor wir geboren wurden. Der Zwischenzustand, den wir nach unserem Tod erleben werden, ist der Zwischenzustand vor unserer nächsten Wiedergeburt. So werden wir nachdem wir gestorben sind, wenn wir als menschliches Wesen wiedergeboren werden, dann während dieses Zwischenzustands eine Gestalt annehmen, die derjenigen ähnlich ist, die wir in unserem nächsten Leben annehmen werden. Das kommt daher, dass die Existenz des Zwischenzustands und unser nächster Wiedergeburtszustand beide durch dasselbe werfende Karma angetrieben werden, das dafür sorgt, in welche Art von zukünftiger Wiedergeburt wir im nächsten Leben geworfen werden.

Nur aus Glück verheißenden Gründen habe ich bislang davon gesprochen, dass wir sowohl in diesem Leben eine Wiedergeburt als Mensch erlangt haben und auch in unserem nächsten Leben als menschliches Wesen wiedergeboren werden. Das ist aber offensichtlich nicht immer der Fall. Wir können von irgendeinem Wiedergeburtszustand zu irgendeinem ganz anderen Wiedergeburtzustand gelangen. Wenn wir aber wieder als Mensch wiedergeboren werden, so müssen wir zum Ende dieses Zwischenzustands hin wiederum den Augenblick der Empfängnis durchleben. Wir werden uns dann im Leib einer Mutter wiederfinden und das Leiden und die Frustration, die wir dort empfinden werden, werden sehr heftig sein. Wir werden in diesem kleinen Raum für neun Monate – neun Monate und zehn Tage – abgeschottet und eingeschlossen sein. Wenn wir daran denken, dass wir neun Monate lang in einem sehr kleinen Abstellraum, der keine Fenster und Türen hat, abgeschottet vor uns hinvegetieren müssen, so können wir uns vielleicht vorstellen, wie unglücklich wir uns wohl in einer solchen Situation fühlen würde – wie sehr wir es verabscheuen würden, für eine solch lange Zeitspanne in einem beengten Raum eingeschlossen zu sein. Wenn wir in dieser Weise über die Situation der Schwangerschaft nachdenken, so wird uns klar, wie schrecklich es sein muss und viel Leiden damit verbunden sein muss, in einem Leib eingesperrt zu sein.

Denken Sie dann bitte auch über all die Probleme nach, denen ein Kind begegnet. Es ist überhaupt nicht lustig ein Baby zu sein: Wir können nicht sprechen, wir können nicht gehen und wir haben keine Kontrolle über unsere Eingeweide. Wir beschmutzen uns selbst die ganze Zeit und das ist überhaupt nicht angenehm. Wenn wir dann etwas älter werden, müssen wir als Kind die ganzen Abläufe und Strapazen des Schulbesuchs durchlaufen. Der Schulbesuch verursacht ebenfalls viele Probleme und ist nicht sehr angenehm.

Das sind die Arten von Situationen die sich unkontrollierbar wiederholen. Wir durchleben diesen Kreislauf immer und immer wieder. Darum geht es in Samsara, der sich unkontrollierbar wiederholenden Existenz. Und auch wenn wir immer wieder als menschliches Wesen wiedergeboren werden, so müssen wir diesen unkontrollierbar sich wiederholenden Daseinskreislauf durchleben. Manchmal werden Dinge sich zum Guten entwickeln und ein anderes Mal nicht. In der Tat werden sich die Dinge meistens nicht sehr gut entwickeln. Tatsächlich werden unsere zukünftigen Leben lediglich mit Problemen und Leiden erfüllt sein. Besitzen wir Dinge – Geld, Grundbesitz, Freunde, Ruhm und so weiter – haben wir Probleme, weil wir sie besitzen und weil wir uns um sie kümmern müssen. Wenn wir all diese verschiedenen Dinge, die wir uns sehnlich wünschen, nicht haben, werden wir Probleme damit haben, diese Dinge nicht zu besitzen und uns wünschen, Geld, Grundbesitz, Freunde und Ruhm zu haben. Kurz gesagt, egal wie wir es drehen und wenden, ob wir Dinge besitzen oder nicht, wir haben dabei stets das Gefühl zu verlieren und schlecht wegzukommen. Wir haben also in jedem Fall Probleme und empfinden Leid.

Die wahre Ursache aller Probleme

Wir können uns nun fragen: „Welche Ursachen gibt es für all diese Probleme? Wie sieht die Ursache oder Wurzel all dieser verschiedenen Leiden und Probleme aus?“ Wenn es so wäre, dass die Probleme überhaupt keine Ursache hätten, gäbe es nichts, womit wir uns von ihnen befreien könnten. Tatsächlich haben die Probleme aber eine Ursache. Wenn wir uns fragen: „Welche maßgebliche Ursache gibt es für all diese Probleme oder welchen Umständen liegen all unsere Probleme zu Grunde?“, so erkennen wir, dass sie alle aus der wesentlichen Ursache für all unsere Probleme und Leiden stammen, nämlich aus unserem eigenen impulsiven Verhalten und unseren eigenen störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Die fortlaufende Kette all unserer Probleme kommt überhaupt erst dadurch zu Stande, weil wir impulsiv handeln. Das wird als Karma bezeichnet. Wir handeln impulsiv, weil wir verschiedene störende Emotionen und Geisteshaltungen oder Verblendungen haben. Woher kommen diese? All diese störenden Emotionen und Geisteshaltungen und verzerrten Ansichten entstehen dadurch, dass wir nach Dingen greifen, so als ob sie auf eine unmögliche Weise existieren würden – zum Beispiel haben wir die falsche Vorstellung, dass die Dinge von ihrer eigenen Seite aus existieren würden und eine wahre, auffindbare, inhärente Identität hätten, die unabhängig begründet ist. Diese Art der Unwissenheit oder Ignoranz, mit der wir nach Dingen greifen, als ob sie eine wahre, auffindbare Identität hätten, ist die Wurzel, die maßgebliche Ursache all unserer Probleme. Wenn wir auf diese Weise nach den Dingen als wahrhaft auffindbar existieren greifen, so bewirkt dieses Greifen, dass alles in unserem Leben falsch läuft. Dies ist die Ursache oder Wurzel all unserer Probleme und Leiden.

Der Buddha selbst drehte das Rad des Dharma drei Mal und setzte drei Zyklen der Übermittlung vorbeugender Maßnahmen in Gang. Dies ist ziemlich gut bekannt. Der erste Zyklus an Lehren bezieht sich auf die vier Tatsachen des Lebens, die von hoch verwirklichten Wesen als wahr angesehen werden, das heißt auf die Vier Edlen Wahrheiten. Von den vier Tatsachen, die von hoch verwirklichten Wesen, also von den Aryas, als wahr angesehen werden, bezieht sich die erste Tatsache auf die wahren Probleme und wahren Leiden. Die zweite Tatsache dieser vier Tatsachen bezieht sich auf die wahre Ursache aller Probleme oder Leiden, nämlich das eigene impulsive Verhalten und die eigenen störenden Emotionen. Diese rühren vom Greifen nach Dingen her, so als ob sie wahre Identitäten hätten.

Wie wir uns vom Greifen nach wahren Identitäten befreien

In der Tat haben die Dinge keine wahren, auffindbaren, inhärenten Identitäten, die unabhängig, von ihren eigenen Seiten her, begründet sind. Wenn wir auf die Dinge projizieren, dass sie eine solche wahre, auffindbare, inhärente Identität haben, obwohl sie eine solche Identität in Wirklichkeit nicht haben, und wenn wir glauben, dass das, was wir wahrnehmen, wahr sei, so ist es dies, was wir hier meinen, wenn wir vom Greifen nach Dingen sprechen, so als ob sie wahre Identitäten hätten. Bei dem Greifen nach wahrer Identität handelt es sich um eine verzerrte Wahrnehmung, da es ein Greifen nach etwas Unmöglichem ist, nach etwas, das überhaupt nicht existiert. Das Greifen bezieht sich auf nichts Reales, es stimmt mit der Realität nicht überein. Wenn wir daher das Verständnis entwickeln können, dass es so etwas wie wahre Identitäten nicht gibt, wird dieses Verständnis als direkte Gegenmittel zur Unwissenheit oder der Ignoranz wirken, mit der wir nach den Dingen greifen, als ob sie wahre Entität hätte. So wird das Verständnis und das Bewusstsein, mit dem wir ein Verständnis erlangen, dass es kein solches Ding wie wahre Identitäten gibt, gegenteilig die Art der Geisteshaltung beeinflussen, mit der wir nach Dinge greifen, so als ob sie solche Identität hätten.

Wenn uns die Frage stellen: „Wie kann dieses Verständnis unsere verzerrte Wahrnehmung der Dinge beeinflussen?“, so ist das deshalb so, weil wir diese Geisteshaltung, mit der wir nach Dingen greifen, als ob sie wahr wären, automatisch beseitigt haben, wenn wir stabil die nutzbringende Geisteshaltung verwirklicht haben, dass es keine Dinge mit wahren Identitäten gibt. Das ist deshalb so, weil der Glaube, dass etwas existiert, und die Verwirklichung, dass es nicht existiert und nie so existiert hat, sich gegenseitig ausschließen. Durch diesen Vorgang werden wir nicht länger irgendwelche störenden Emotionen oder Geisteshaltungen entwickeln, da wir nicht weiterhin nach Dingen in der Weise greifen, als hätten sie eine wahre Identität.

Es ist als ob wir die Wurzeln eines Baumes durchtrennen, der Baum umfällt, und als ob dann die Blätter und Zweige nicht länger nachwachsen können. Beseitigen wir dieses Greifen nach Dingen, als ob sie wahre Identitäten hätten, eliminiert dieses beendete Greifen all die 84.000 Arten störender Emotionen und Geisteshaltungen, die von diesem Missverständnis der Realität herrühren. Mit anderen Worten: Da die 84.000 störenden Geisteshaltungen alle daher stammen, dass wir nach den Dingen so greifen, als hätten sie eine wahre Identität, ziehen wir dann durch die Beseitigung dieser falschen Vorstellung die Wurzel allen Leidens heraus. Wir merzen diese Wurzel vollständig aus, wenn wir wirklich erkennen, dass es keine solche Sache wie eine wahre Identität gibt. So ist das Verständnis, dass es kein solches Ding wie wahre Identität gibt, die wirkliche Ursache oder Wurzel für das Erlangen der Befreiung. Es ist daher außerordentlich heilsam, wenn wir uns an solch ein Verständnis der Wirklichkeit gewöhnen und wir uns ein solches Verständnis zu einer nützlichen Gewohnheit machen. Dann werden all unsere Probleme und Leiden aufhören, weiter entstehen zu können.

Die reinigenden und störenden Paare innerhalb der vier edlen Wahrheiten

Dieser Zustand, in dem uns keine weitere Probleme entstehen, dieser Zustand der Abwesenheit oder des Aufhörens all unserer Probleme, wird als „wahre Beendigung“ oder „wahres Aufhören“ bezeichnet. Wenn wir uns fragen: „Wie wird man diese Probleme los, wie erreicht man diesen Zustand der wahren Beendigung all unserer Probleme?“, so ist zu sagen, dass er durch einen Pfadgeist erreicht wird, mit dem wir verstehen, dass es nicht so etwas wie eine wahre Identität irgendeiner Sache gibt. Wenn wir in unserem Bewusstsein ein solches Verständnis erlangt haben, so wird das als ein wahrer Pfadgeist bezeichnet – das ist die vierte edle Wahrheit. Das Bewusstsein, das daher diese Ursachen für die Beendigung all unserer Probleme hervorbringt, ist ein Pfadgeist, mit dem wir auch das unterscheidende Gewahrsein besitzen. Mithilfe dieses unterscheidenden Gewahrseins erkennen wir dann, dass es keine solche Sache wie wahre Identitäten gibt – mit anderen Worten: Wir entwickeln das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit oder die völlige Abwesenheit wahrer Identitäten. Dieser wahre Pfadgeist ist eine Ursache dafür, dass eine wahre Beendigung all unserer Probleme als ein Ergebnis hervorgebracht wird, und zwar in der Weise, dass unsere Probleme niemals mehr wieder auftreten werden, wenn wir einen solchen Pfadgeist entwickelt haben. So ist der wahre Pfadgeist die Ursache für das Entstehen der wahren Beendigung, die in diesem Fall die Wirkung darstellt.

Wir haben aber sorgfältig zu unterscheiden, welche Art von Resultat eine wahre Beendigung ist. Eine wahre Beendigung ist das Ergebnis einer sogenannten Trennung (abgetrenntes Resultat), die eine besondere Art von Wirkung darstellt. Es handelt sich hierbei nicht um die Art von Wirkung, die durch Ursachen und Bedingungen hervorgebracht oder angesammelt wird, so wie das bei der Verwirklichung dieser wahren Beendigung der Fall ist. Vielmehr handelt es sich bei der wahren Beendigung selbst um die Art von Ergebnis, die als ein statisches, unbedingtes Phänomen beschrieben wird. Als ein abgetrenntes Resultat ist die wahre Beendigung eine statische Abwesenheit eines Phänomens, die nicht mehr von Ursachen und Bedingungen abhängt und sich niemals verändert.

Bei den wahren Beendigungen und den wahren Arten von Pfadgeist spricht man auch von dem gereinigten Aspekt der vier Tatsachen, die als wahr betrachtet werden, dass heißt von dem gereinigten Aspekt der vier edlen Wahrheiten. Und wenn wir den störenden Aspekt dieser Wahrheiten betrachten, so bezieht sich dieser auf die ersten zwei Wahrheiten. Bei den ersten zwei Wahrheiten werden die wahren Ursachen aller Probleme als eine Ursache betrachtet und die wahren Probleme als ein Resultat der wahren Ursache, dass heißt als ein Resultat der Unwissenheit.

Es gibt ein Mantra, das als „die Essenz abhängigen Entstehens“ (tib. rten-´brel snying-po) bezeichnet wird, das häufig rezitiert wird: „Om ye dharma hetu prabhava, hetun teshan tathagathohya vadate, teshanca yo nirodha, evam vadi mahashramanaye svaha.“ Bei diesem Mantra handelt es sich um einen Sanskrit-Satz, der soviel bedeutet wie: „Om, welches Phänomen auch immer aus einer Ursache entstanden ist, der So-Gegangene hat in der Tat von dessen Ursache gesprochen. Und über all das, was zur Beendigung dieses Phänomens führt, hat der große Asketen gleichfalls gesprochen, Svaha.“ Dieses Mantra nimmt Bezug auf die zwei Ursachen und die zwei Wirkungen, die innerhalb der vier edlen Wahrheiten beschrieben werden.

Der Buddha hat einen Zustand völliger geistiger Klarheit erlangt und ist vollkommen entwickelt – er hat die Erleuchtung erlangt. Nachdem er selbst Erleuchtung erlangt hatte, zeigte er seinen verschiedenen Schülern den Weg auf, wie sie selbst die Befreiung von all ihren Leiden erreichen können. Er lehrte sie diese vier Tatsachen oder Wahrheiten, wie sie von hoch verwirklichten Wesen als wahr angesehen werden. Wenn wir uns die Lehre von den vier edlen Wahrheiten zu Herzen nehmen und den Anweisungen diese Lehre betreffend folgen, so ist es tatsächlich möglich, das wir einen Zustand der Befreiung erlangen, wie ihn auch der Buddha erlangt hat.

Interesse daran zeigen, Befreiung erlangen zu wollen

Wir haben nun für uns selbst erkannt haben, dass mit Sicherheit keiner von uns all diese Probleme erleben möchte und dass wir alle ganz gewiss glücklich sein wollen. Überdies möchten wir gerne die Art von Glück erleben, die möglichst lange andauert und sehr beständig ist. Die einzige Art von Glück, die wirklich lange anhält und tatsächlich beständig ist, ist das Glück, das wir im Zustand der Befreiung erleben – im Zustand der Befreiung erleben wir endlich die Freiheit von all unseren Leiden und Schwierigkeiten. Wir haben nicht nur Interesse daran, die Befreiung aus Samsara zu erreichen, sondern sind auch überzeugt, dass es sich bei der Befreiung um einen Zustand handelt, den wir wirklich erlangen können. Das Erlangen eines Zustands der Befreiung kommt aber keineswegs ohne Ursachen zu Stande. Die Befreiung entsteht vielmehr ganz definitiv aus einer spezifischen Ursache: Die Ursache zum Erlangen der Befreiung ist, dass wir das unterscheidende Gewahrsein (Weisheit) entwickeln, mit dessen Hilfe wir durchschauen können, dass es keine solche Sache gibt, wie die wahre Identität irgendeines Phänomens. Wenn wir ein solches Verständnis der Wirklichkeit erlangen und dadurch die Ursache für die Befreiung hervorbringen, indem wir dieses unterscheidende Gewahrsein entwickeln, so können wir dadurch wirklich das Glück erlangen, nach dem wir uns gesehnt haben. Wir können einen andauernden Zustand des Glücklichseins erreichen, nämlich das Glück eines Zustands vollkommener Befreiung von allen unseren Problemen und Leiden. Wenn wir uns wünschen, diesen Zustand der Befreiung zu erreichen, müssen wir ein begeistertes Interesse dafür entwickeln, die Befreiung zu erlangen.

Wie können wir ein solch begeistertes Interesse für das Erlangen der Befreiung entwickeln? Wie können wir einen solchen Zustand der Befreiung tatsächlich erlangen? Zu allererst, indem wir das entwickeln, was als „außergewöhnliches unterscheidendes Gewahrsein“ bekannt ist, und was manchmal auch als „ die Übung in außergewöhnlicher Weisheit“ bezeichnet wird. Um diese Übung zu bewältigen, müssen wir uns vorher zunächst in fortgeschritten vertiefter Konzentration üben. Um diese gesteigerte Form vertiefter Konzentration zu meistern, müssen wir uns wiederum zunächst in außergewöhnlicher ethischer Selbstdisziplin üben. Ethische Selbstdisziplin und tiefe Konzentration wirken als ein stabiles Fundament, um dann das außergewöhnliche unterscheidende Gewahrsein zu erlangen. Diese Übungen in außergewöhnlicher ethischer Selbstdisziplin umfassen das Halten der verschiedenen Gruppen von Zurückhaltungen zum Erlangen der individuellen Befreiung – dass heißt die Pratimoksha-Gelübde.

Die gelobten Zurückhaltungen zum Erlangen der individuelle Befreiung (Pratimoksha-Gelübde) und warum es wichtig ist, seine ethischen Vorsätze einzuhalten

6) Ich erbitte die Inspiration dafür, dass ich mir mit Vergegenwärtigung, Wachsamkeit und großer Sorgfalt, die Praktiken für das Erlangen der individuellen Befreiung, das Fundament der Lehre, zu Herzen zu nehmen; das möchte ich durch diesen reinen, motivierenden Gedanken herbeiführen.

Es gibt acht Gruppen von Gelübden (gelobter Zurückhaltungen) für die individuelle Befreiung – drei Gruppen für Haushälter und fünf Gruppen, für Menschen, die sich entschlossen haben, Roben zu tragen. Von den fünf Gruppen von Gelübden für Robenträger gibt es die Gelübde-Sammlung für vollordinierte Mönche mit zweihundertzweiundfünfzig gelobten Zurückhaltungen. Die Ordinationslinie für vollordinierte Nonnen in der Mulasarvastivadin-Tradition befolgter Gelübde ist in Tibet nicht mehr vorhanden, es gibt aber die zwei Gruppen von gelobten Zurückhaltungen für Novizen und Novizinnen und ebenso die Sammlung der Gelübde für Nonnen auf Probe. Es gibt auch die beiden Sammlungen der Laien-Gelübden – die für männliche und weibliche Laien, und auch die Gruppe von Gelübden für einen Tag. Es gibt demnach acht unterschiedliche Niveaus von gelobten Zurückhaltungen zum Erlangen der individuellen Befreiung. Ganz gleich welche Gruppe von Gelübden wir auch zu halten versprechen, wir müssen bereit sein, die Gelübde gegebenenfalls auf Kosten unseres Lebens äußerst rein zu halten und uns ernsthaft bemühen, sie einzuhalten. Ganz gleich für welche Art von ethischer Selbstdisziplin wir uns selbst verpflichten und welche Gelübde wir auch immer zu halten versprechen – auch wenn es sich lediglich um die ethische Selbstdisziplin handelt, mit der wir uns von den zehn destruktiven Handlungen zurückhalten – wir müssen diese Enthaltungen sehr genau und sorgfältig einhalten. Wenn wir uns in dieser Weise in ethischer Selbstdisziplin üben, so schaffen wir damit das Fundament für alle Arten von Verwirklichungen, von denen der Buddha gesprochen hat. Wer diese versprochenen Enthaltungen oder Zurückhaltungen einhält, kann dem entsprechend die individuelle Befreiung erlangen. Daher werden die Gelübde auch als „die gelobten Zurückhaltungen zum Erlangen der individuellen Befreiung“ bezeichnet. Das ist die Bedeutung des Sanskrit-Wortes „pratimoksha“ .

Wenn wir nicht irgendeine Form von anständiger ethischer Selbstdisziplin oder Moral einhalten, wird uns der Weg verschlossen bleiben, als Mensch oder Gott wiedergeboren zu werden. Wenn wir uns beispielsweise in Freigebigkeit sehr umfassend üben – sagen wir mal, dass wir einen Raum wie diesen angefüllt mit Geld und wertvollen Gegenständen besitzen würden. Wenn wir dann jeden Tag das ganze Geld und all die Gegenstände an Tausende von Menschen verschenken täten, so würden wir – wenn wir uns als Mensch nicht ethisch verhalten haben und uns nicht in vernünftiger ethischer Selbstdisziplin geübt haben – als Resultat unserer Freigebigkeit, zwar möglicherweise als ein wohlhabendes Lebewesen wiedergeboren werden, aber nicht auch notwendigerweise als ein reicher Mensch. Wir könnten in einem der schlechten Wiedergeburtszuständen wiedergeboren werden, zum Beispiel als ein wohlhabendes Tier, so zum Beispiel als ein Naga (eine Kreatur, die halb Mensch und halb Schlange ist) oder als ein hungriger Geist, der viele Besitztümer und zahlreiche Juwelen hat. Es gibt zum Beispiel hungrige Klammergeister, die in Palästen aus Gold leben. Kraft ihres großen Geizes zu einem früheren Zeitpunkt, sind sie nun dazu verdammt, Stücke aus ihrem eigenen Fleisch zu schneiden und diese Fleischstücke zu essen, da sie sonst nichts anderes zu essen haben. Solche Existenzbereiche und Lebensformen existieren, und sie entstehen als ein Resultat davon, dass man zwar großzügig war, sich aber nicht ethisch verhalten hat.

Wenn wir uns jedoch ebenso freigebig verhalten, während wir uns auch gleichzeitig gewissenhaft in ethischer Selbstdisziplin üben, dann werden wir als ein Resultat dieses Verhaltens als ein menschliches Wesen wiedergeboren werden und großen Reichtum genießen können. Ferner werden wir dann in der Lage sein, den Reichtum, der uns dann als großzügiger Mensch zur Verfügung steht, auch weiterhin sinnvoll einzusetzen und dadurch ein stetig zunehmendes positives Potenzial aufbauen. Dadurch werden wir dann wiederum in der Lage sein, weitere spirituelle Fortschritte zu machen. In dieser Weise wird unser großzügiges und ethisches Verhalten immer wieder Früchte tragen. Sind wir aber lediglich großzügig, ohne ethisch zu sein, wird das darin resultieren, dass wir nicht als Mensch wiedergeboren werden, sondern in einem der schlechten Daseinsbereiche. Was wir getan haben, wird lediglich ein positives Resultat in Bezug auf den Reichtum hervorbringen, der uns dann vielleicht auch in diesen schlechten Wiedergeburtszuständen zuteil wird. In einem solchen schlechten Zustand werden wir jedoch nicht in der Lage sein, in irgendeiner Weise weiteres positives Potenzial aufzubauen.

Sich in ethischer Selbstdisziplin zu üben und die Übung vollständig, bis hin zum kleinsten, vom Buddha gelehrten Ethik-Detail, ist natürlich die beste Art, den Dharma zu praktizieren. Wenn wir jedoch nicht in der Lage sind so zu üben, können wir zumindest den Grundlagen der Ethik folgen, wie sie vom Buddha gelehrt wurden, wodurch wir dann inmitten des Schülerkreises des nächsten universellen Lehrers, des fünften Buddha dieses Äons, dem Buddha Maitreya, heineingeboren werden. Dies ist ein besonderes unterscheidendes Merkmal, auf das der Buddha hingewiesen hat.

Ethische Selbstdisziplin ist daher das Herz oder die Essenz aller buddhistischen Praktiken. Um die Befreiung zu erlangen, müssen wir uns in den Übungen des außergewöhnlichen unterscheidenden Gewahrseins trainieren, damit wir begreifen können, dass es keine solchen Dinge wie wahre Identitäten gibt. Um ein solches Verständnis zu erlangen, müssen wir die Übungen der fortgeschrittenen vertieften Konzentration durchführen. Um diese Stufe der Konzentrationen zu erlangen, müssen wir uns in den Übungen der außergewöhnlichen ethischen Selbstdisziplin trainieren. Diese Abfolge wurde in dem vorigen Vers erörtert.

Zusammenfassung des mittleren Bereichs der Motivation

Nun haben wir bereits großen Fortschritt als Übender mit einer anfänglichen Motivation gemacht, also in dem Bereich, in dem wir mit der Übung begonnen haben. Wir waren mit dieser Ebene der Motivation nur daran interessiert gewesen, unsere zukünftigen Leben zu verbessern und als Mensch oder Gott wiedergeboren zu werden. Nun erkennen wir jedoch, dass es nur unkontrollierbar sich wiederholende Probleme gibt, ganz gleich in welchem Daseinsbereiche wir wiedergeboren werden. Wir haben den Wunsch entwickelt, Befreiung von allen Problemen und Leiden zu erlangen, welcher Art diese auch immer sein mögen. Dies ist die mittlere Ebene der Motivation mit der wir uns wünschen, einen Zustand der Befreiung von allen unkontrollierbar sich wiederholenden Situationen des Samsara zu erlangen.

Wenn wir diese verschiedenen hier ausgewiesenen Pfade des Geistes entwickeln, so können wir dadurch die Wurzel all unserer Probleme durchtrennen. Wir können wirklich den Zustand der Befreiung erlangen, also ein befreites Wesens werden. Kurz gesagt ist das die Ebene der Motivation eines Menschen mit einem mittleren Motivationsumfang, wenn wir uns all diesen Praktiken widmen, auf die hier hingewiesen wird, und wenn wir das tun, um die Befreiung von unseren individuellen Problemen zu erreichen.

Warum es wichtig ist, zu einer fortgeschrittenen Ebene der Motivation weiterzugehen

Es reicht aber nicht aus, dass nur wir selbst von all unseren Problemen befreit sind. Sicherlich ist es eine gut Sache, ein befreites Wesen zu sein, also ein Arhat zu sein, der frei ist von störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Als Arhat haben wir verschiedene außersinnliche Wahrnehmungskräfte erlangt, so zum Beispiel die fünf verschiedenen Kräfte der Emanation. Es wird aber nie ausreichend sein, sich lediglich selbst von allen Probleme und Leiden zu befreien. So wie normale Menschen nie mit dem zufrieden sind, was sie bereits besitzen oder erreicht haben, würde ein spirituell Praktizierender, der darüber nachdenkt, lediglich sich selbst zu befreien, damit nicht zufrieden sein. Einen solchen Zustand zu erlangen ist nicht ausreichend.

Das Problem ist hier, dass wir in einem Zustand der Befreiung nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse von allen anderen Lebewesen, beziehungsweise begrenzten Wesen oder fühlenden Wesen, zu erfüllen. Und wie können wir uns selbst wirklich in eine Position bringen, in der wir in der Lage sind, allen anderen Lebewesen, die einen begrenzten Geist und Körper haben, zu helfen? Der einzige Weg diesen begrenzten Wesen zu helfen ist, dass wir selbst vollkommen geistesklar sind und uns selbst vollständig entwickelt haben. Wir können anderen Lebewesen also nur dann wirklich helfen, wenn wir selbst ein Buddha geworden sind. Nur ein befreites Wesen, ein Arhat, zu sein, ist nicht ausreichend. Als ein Arhat haben wir noch immer nicht die Fähigkeit erlangt, allen Lebewesen zu helfen.

Warum ist das so, dass wir als befreites Wesen noch immer nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse aller anderen Lebewesen zu erfüllen? Nun gut, es ist richtig, dass wir in diesem Zustand all die Schleier beseitigt haben, die durch die störenden Emotionen und Geisteshaltungen verursacht worden sind – wir haben als ein Arhat also keine störenden Emotionen oder Geisteshaltungen mehr. Es gibt aber noch eine andere Art von Schleiern, neben den emotionalen Schleiern, die wir auch als Arhat noch nicht beseitigt haben. Es gibt nämlich in der Tat zwei Gruppen von Schleiern. Als Arhat haben wir die zweite Art von Schleier noch nicht eliminiert – nämlich die Gruppe der kognitiven Schleier, die sich auf alle erkennbaren Dinge bezieht. Da wir noch immer Schleier haben, die sich auf alle erkennbaren Dinge beziehen, also Schleier, die die Allwissenheit verhindern, haben wir noch nicht einmal unsere eigenen Bedürfnisse vollständig befriedigt. Wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse noch nicht einmal vollständig befriedigen können und dann den höchsten Zustand erlangen, den wir selbst erlangen können, wie sollten wir dann überhaupt in der Lage sein, die Bedürfnisse anderer vollständig zu erfüllen? Und wie kann es sein, dass wir unsere eigenen Zielsetzungen noch nicht erreicht haben? Selbst wenn wir einen Zustand der Befreiung erlangt haben, so haben wir doch nicht unser höchstes und volles Potenzial ausgeschöpft; wir haben noch nicht den Zustand eines Buddha verwirklicht.

Die allgemeine Definition für ein hingebungsvolles Bodhichitta-Herz

Warum müssen wir überhaupt einen Zustand der Erleuchtung erlangen? Warum ist es notwendig, einen Zustand zu erlangen, in dem wir vollkommen klaren Verstandes sind und uns selbst vollständig entwickelt haben? Warum müssen wir einen Zustand vollständiger Reinigung und einen Zustand vollendeter Entwicklung erlangen? Wir müssen einen solchen Zustand deshalb erlangen, weil wir uns in die Möglichkeit schaffen wollen, dass wir anderen Lebewesen so gut wie möglich helfen können. Wenn wir vollkommene Hingabe für ein solches Ziel entwickeln, dann wird dieser Geisteszustand als „ das hingebungsvolles Bodhichitta-Herz“ bezeichnet. Mit diesem Geisteszustand richten wir unsere Aufmerksamkeit dann auf die Bedürfnisse aller anderen Lebewesen. Wir beabsichtigten, wenn wir einen solchen Geisteszustand entwickelt haben, diese Bedürfnisse unseren Fähigkeiten gemäß aufs Beste zu befriedigen. Zudem ist unser Geist auf unsere eigene individuelle zukünftige Erleuchtung ausgerichtet, also auf die Erleuchtung, die wir noch nicht erlangt haben. Wir haben die Erleuchtung noch nicht erreicht, aber wir können sie zukünftig erreichen. Und wenn wir die Erleuchtung erlangt haben, befähigt das uns dazu, die Bedürfnisse aller Lebewesen zu befriedigen. Wenn wir noch kein hingebungsvolles Herz entwickelt haben, das sich in dieser Weise ausrichtet, so haben wir noch nicht die weitreichende Geisteshaltung des Mahayana-Fahrzeugs erlangt. Auch wenn wir bereits ein korrektes Verständnis der Leerheit oder Realität erlangt haben, werden wir nicht in der Lage sein, den vollkommenen Zustand eines Buddha zu erlangen, wenn wir noch kein hingebungsvolles Bodhichitta-Herz entwickelt haben.

Bei dem hingebungsvollen Bodhichitta-Herz handelt es sich um eine Geisteshaltung, die wir erst noch kultivieren müssen. Die aufrichtige Entwicklung einer solchen Art von Hingabe lässt sich nicht einfach sofortig hervorbringen, so als wenn wir sie per Knopfdruck einfach abrufen könnten. Worauf basiert nun diese Art von hingebungsvollem Bodhichitta-Herz? Es ist auf die Entwicklung von Mitgefühl als ihre Grundlage oder Wurzel angewiesen. Daher ist die Meditation über das große Mitgefühl die wesentliche Übung, die wir als erstes durchführen sollten und die wir als eine heilsame Gewohnheit in unserem Geist etablieren.

Mitgefühl

Was ist Mitgefühl? Mitgefühl ist ein Zustand intensiver, liebevoller Fürsorge, ein Geisteszustand, bei dem wir allen Lebewesen wünschen, dass sie frei sein mögen von ihren Problemen, Frustrationen und ihrer Unzufriedenheit. Das ist Mitgefühl. Der Wunsch, dass jedes Lebewesen glücklich sein möge, wird als „Liebe“ bezeichnet. Und wenn wir eine Geisteshaltung entwickelt haben, bei der wir denken: „Ich muss selbst etwas dafür tun, dass andere Wesen glücklich sind. Ich selbst muss mich darum bemühen, dass andere glücklich sind. Und ich selbst muss mich darum bemühen, das Leid von anderen fernzuhalten“, dann wird dieser Geisteszustand als „außergewöhnlicher Entschluss“ bezeichnet. Aber selbst wenn wir einen solchen Geisteszustand hervorgebracht haben, der den Entschluss beinhaltet, dass wir selbst alle Lebewesen zum Glück führen können und all ihre Leiden beseitigen können, so haben wir diese Fähigkeit in der Tat nicht. Gut, wer kann das schon? Nur ein vollkommen erleuchteter Buddha kann so etwas bewerkstelligen, also jemand mit einem völlig klaren Geist, jemand der vollkommen entwickelt ist. Wenn wir unser Herz dann dem Ziel widmen, einen solchen Zustand erlangen, der uns befähigt, allen Lebewesen von Nutzen sein zu können, ihr Glück zu bewirken und ihre Leiden zu beseitigen, dann wird eine solche Geisteshaltung als „hingebungsvolles Bodhichitta-Herz“ bezeichnet.

Der Zustand des außergewöhnlichen Entschlusses und das hingebungsvollen Herzen sind Resultate, die sich aus der Entwicklung des großen Mitgefühls ergeben. Liebe wiederum ist die Ursache für die Entstehung von großem Mitgefühl. Es ist sehr wichtig, Mitgefühl als eine hilfreiche Gewohnheit im Geist zu verankern – mit anderen Worten: Es ist wichtig, über Mitgefühl zu meditieren, da es die Grundlage dafür darstellt, dass wir diese umfassenden Zustände des Geistes und des Herzen hervorbringen können. Wenn wir Mitgefühl als eine hilfreiche Gewohnheit in unserem Geist etablieren, wird uns das automatisch von viel negativem Potenzial befreien, das wir zu früherer Zeit vielleicht aufgebaut haben.

Wie der Meister Asanga Mitgefühl entwickelte

Von den zwei großen Pionieren der geistig weitreichenden Mahayana-Lehren war einer Asanga. Er verbrachte viele Jahre großer Anstrengung damit, Verwirklichung zu erlangen, um dadurch die Verwirklichung der Buddha-Gestalt Maitreya erlangen zu können und diesen direkt zu erblicken. Der Ort, an dem sich für seine Meditation zurückgezogen hatte, war eine Höhle in der Nähe des Klosters Nalanda, nächst dem Geierberg. Zwölf Jahre lang führte er eine intensive Praxis durch, um Maitreya zu verwirklichen. Zunächst praktizierte er drei Jahre lang, gab dann auf und ging zurück hinunter ins Tal. Dann stieg er wieder zur Höhle, um dort für weitere drei Jahre zu praktizieren. Diese intensive Übung von drei Jahren Dauer wiederholte er mehrmals bis er zwölf Jahre erreicht hatte.

Als er aus seiner Höhle nach zwölf Jahren enttäuscht, ohne ein Ergebnis erzielt zu haben, wieder ins Tal hinab stieg, sah er einen großen Hund, der eine schreckliche Art von Hauterkrankung hatte – der Hund befand sich in einer Verfassung, in der er kein Fell mehr auf seinem Körper trug. Es war nur blanke Haut zu sehen – mit offenen, klaffenden Wunden auf dem hinteren Teil seines Körpers, die gefüllt waren mit Maden und Würmern. Trotzdem bellte der Hund sehr wild. Als Asanga diesen Hund in einem solch elenden Zustand sah, entwickelte Asanga großes Mitgefühl mit dem Hund, insbesondere als er sah, dass er nicht nur kein Fell hatte, sondern seine Haut auch mit schrecklichen Wunden übersät war. Und nicht nur das. Die offenen Wunden waren zudem durch die Maden eitrig, die überall im klaffenden Fleisch herumkrochen, und sahen absolut schrecklich aus. Daher beschloss er, bewegt von seinem Mitgefühl, zu versuchen, für dieses arme Tier etwas zu unternehmen. Er ging in die nahe Stadt und holte sich ein scharfes Messer. Er kam mit diesem Messer zurück und wollte die Maden in einer Weise aus dem Hund entfernen, dass die Maden dabei nicht sterben würden müssen. So schnitt er etwas von seinem eigenen Fleisch heraus und legte es als eine alternative Nahrungsquelle für die Maden auf dem Boden nieder. So konnte er die Maden dann, nachdem er sie aus dem Hund entfernt hätte, auf dieses Stück Fleisch setzen. Er wollte die Maden auf keinen Fall verletzen, wenn er sie mit seinen Fingern aus der Wunde des Hundes herauspulen würde. Daher kniete er vor dem Hund nieder, um die Maden sanft mit seiner Zunge aus der Wunde des Hundes zu entfernen.

Er schloss dabei seine Augen, kniete sich nieder und streckte seine Zunge heraus. Er versuchte die Würmer zu entfernen, war aber nicht in der Lage, den Hund tatsächlich zu berühren. So öffnete er seine Augen und sah vor sich, wo zuvor der Hund gewesen war, den Buddha Maitreya selbst, in all seiner Pracht. Er griff nach Maitreyas Robe und fragte ihn: „Ich habe mich zwölf Jahre lang so intensiv darum bemüht, eine Vision von dir zu haben. Wie kann es angehen, dass ich bislang noch keine solche Vision von dir hatte?“ Maitreya sagte: „Nun, ich war die ganze Zeit über, all die zwölf Jahre, immer genau hier bei dir an deiner Seite. Du warst einfach nur zu blind, um mich sehen zu können. Dein Geist war zu verschleiert. Der Umstand, dass du das große Mitgefühl entwickelt hast, war jedoch eine Ursache dafür, diese Schleier zu entfernen, sodass du nun fähig bist, mich zu sehen. Als Beweis, dass ich mich die ganze Zeit über stets genau vor dir befunden habe, schaue hier auf den Saum meiner Robe. Hier ist die ganze Spucke und der Rotz, den du all die Jahre über abgesondert hast, und der genau hier auf meiner Robe zu liegen kam.“

Asanga war nun so hocherfreut wirklich Maitreya gesehen zu haben, dass er Maitreya auf seine Schultern hievte und in die Stadt ging. Es war eine ziemlich große Stadt. Herumstolzierend rief er jedem zu: „Jeder soll aus seinem Haus herauskommen und den glorreichen Maitreya sehen!“ Die Menschen kamen aus ihren Häusern heraus, aber niemand konnte irgendetwas auf den Schultern Asangas sehen. Sie sagten alle: „Der arme Asanga, er hat an seinen intensiven Praktiken so schwer gearbeitet, dass er dabei ziemlich verrückt geworden ist.“ Danach nahm Maitreya Asanga mit sich in das reine Land Tushita. Da lehrte er ihn die fünf Schriften Maitreyas, die Asanga danach zur Erde zurückbrachte. Daher stammt die Linie der ausgedehnten Praxis.

Auf dies wird hier in dem Vers hingewiesen:

7) So wie ich selbst in den Ozean zwanghafter Existenz gefallen bin, so auch alle anderen wandernden Wesen - sie waren alle meine Mütter. Dies erkennend, erbitte ich die Inspiration dafür, dass mein Bodhichitta-Herz bis hin zur höchst möglichen Bodhichitta-Ausrichtung anwachsen mögen damit ich die Verantwortung dafür übernehmen kann, diese wandernden Wesen zu befreien.

Zusammenfassung

Diese Verse handeln von Menschen, die über ein fortgeschrittenes Motivationsniveau verfügen. Zuerst haben wir, als wir ein Motivationsniveau der anfänglichen Ebene hatten, über all die Leiden des Todes nachgedacht. Ferner haben wir darüber nachgedacht, dass wir in einem der schlechten Wiedergeburtszustände wiedergeboren werden könnten. Als wir dann, als ein Übender mit einem mittleren Motivationsniveau, in der Praxis weiter voranschritten, haben wir über all die Probleme und Leiden nachgedacht, die mit jeglicher unkontrollierbar sich wiederholenden Situation in Samsara verbunden sind. Dann haben wir die Entschlossenheit entwickelt, uns von all den Problemen und Leiden zu befreien: Wir haben Entsagung entwickelt.

Es gibt zwei Arten der Entschlossenheit, frei zu sein: Es gibt die Entschlossenheit, frei von Problemen zu sein, mit deren Hilfe wir uns von der Besessenheit in Bezug auf die Dinge dieses Lebens abwenden. Ferner gibt es die Entschlossenheit, mit deren Hilfe wir uns von unserer Besessenheit in Bezug auf die Dinge in zukünftigen Leben befreien. Wenn wir diese zweite Art der Entschlossenheit, frei zu sein, auf der Grundlage entwickeln, dass wir über all unsere Probleme nachgedacht zu haben und uns vorgestellt haben, wie es sein würde, von ihnen befreit zu sein, verändern wir dann diese Entschlossenheit mit der Ausrichtung auf uns selbst dahingehend, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf andere lenken und über die Probleme aller anderen Lebewesen nachdenken.

Die Entschlossenheit, uns in dieser Weise von Problemen befreien zu wollen, wird in einen Zustand transformiert, in dem man die Entschlossenheit entwickelt, alle Lebewesen von ihren Leiden und Problemen zu befreien. Auf diese Weise entwickeln wir großes Mitgefühl, mit dem wir uns wünschen, dass alle Lebewesen von ihren Leiden befreit sein mögen. Dieses große Mitgefühl wird als Grundlage dafür dienen, dass wir uns in die Richtung bewegen können, den außergewöhnlichen Entschluss zu entwickeln, Verantwortung für das Wohlergehen anderer Lebewesen zu übernehmen. Zudem entwickeln wir durch den außergewöhnlichen Entschluss ein hingebungsvolles Bodhichitta-Herz, mit dem wir uns der Aufgabe widmen, die Bedürfnisse aller Wesen zu erfüllen und einen Zustand der Erleuchtung zu erreichen, damit wir in der Lage sind, die Bedürfnisse aller Lebewesen zu erfüllen. Dieses sind die aufeinander aufbauenden Stufen der Praxis, in denen wir uns üben.

Wir werden morgen mit den übrigen Punkten weitermachen, auf die hier in diesem Vers Bezug genommen wird, wenn wir die Erläuterungen zu diesem Vers weiter ausführen.

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