Vergleich von tibetischem Buddhismus und Bön-Tradition

Bön als fünfte Tradition Tibets

Meist wird gesagt, dass Tibet vier Traditionen hat: Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelug, wobei Gelug die reformierte Fortsetzung der früheren Kadam-Tradition ist. Auf der Nicht-sektiererischen Konferenz der Tulkus (der inkarnierten Lamas) und Äbte, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama im Dezember 1988 in Sarnath, Indien, einberief, betonte Seine Heiligkeit jedoch, dass es wichtig ist, die vorbuddhistische tibetische Bön-Tradition den vier genannten Traditionen hinzuzufügen und stets von den fünf tibetischen Traditionen zu sprechen. Er erklärte, dass die Frage, ob Bön eine buddhistische Tradition sei, nicht der wichtige Punkt ist: Die Form des Bön, die sich seit dem 11. Jahrhundert der gemeinsamen Ära entwickelt hat, weist genug Gemeinsamkeiten mit den vier buddhistischen Traditionen Tibets auf, dass wir alle fünf als eine Einheit betrachten können.

Hierarchie und Dezentralisierung

Bevor wir über die Ähnlichkeiten und Unterschiede der fünf tibetischen Traditionen sprechen, müssen wir uns daran erinnern, dass keines der tibetischen Systeme eine organisierte „Kirche“ bildet wie etwa die katholische Kirche. Keines von ihnen ist so zentral organisiert. Die Oberhäupter der Traditionen, die Äbte usw. sind im Wesentlichen verantwortlich für die klösterliche Ordination, dafür, die mündlichen Übertragungslinien fortzusetzen und tantrische Initiationen zu geben. Sie sind also nicht hauptsächlich mit Verwaltungsaufgaben befasst. Hierarchie betrifft vornehmlich die Sitzordnung bei den großen rituellen Zeremonien (Pujas), auf wie vielen Kissen jemand sitzt, wer in welcher Reihenfolge den Tee serviert bekommt usw. Aus verschiednen geografischen und kulturellen Gründen haben die Tibeter einen Hang zu extremer Unabhängigkeit und jedes Kloster neigt dazu, seinen eigenen Weg zu gehen. Die Abgelegenheit der Klöster, die riesigen Entfernungen zwischen ihnen und die schwierigen Reise- und Kommunikationsbedingungen haben die Tendenz in Richtung Dezentralisierung verstärkt.

Gemeinsamkeiten

Die fünf tibetischen Traditionen haben viel Gemeinsames, vielleicht bis zu achtzig Prozent oder mehr. Ihre jeweilige Geschichte zeigt deutlich, dass die Übertragungslinien nicht als getrennte, innerhalb konkreter Grenzen isolierte, monolithische Blöcke ohne Berührungspunkte existieren. Die fünf Traditionen haben sich vielmehr dadurch herauskristallisiert, dass die sie begründenden Meister in sich verschiedene Übertragungslinien, meist indischen Ursprungs, gebündelt haben. Gewohnheitsmäßig haben die jeweiligen Anhänger diese Synthesen als „eine Übertragungslinie“ bezeichnet, aber mehrere der einzelnen Übertragungslinien sind ebenso Bestandteil der Übertragungslinien-Mischung anderer Traditionen.

Laien- und Klostertraditionen

Das erste, was alle fünf Traditionen gemeinsam haben, ist, dass sie sowohl Laien- als auch Klostertraditionen haben. In ihren Laientraditionen gibt es verheiratete Yogis und Yoginis, die sich intensiver tantrischer Meditationspraxis widmen und gewöhnliche Laien, deren Dharmapraxis hauptsächlich darin besteht, dass sie Mantras rezitieren, in Tempeln oder zu Hause Opfergaben darbringen und heilige Monumenten umrunden.

Die Klostertraditionen aller fünf kennen für die Mönche die Vollordination und die Novizenordination sowie für die Nonnen die Novizenordination. Die Vollordination der Nonnen kam nie nach Tibet. Die Aufnahme in die Mönchs- und Nonnenklöster erfolgt normalerweise im Alter von acht Jahren. Architektur und Innengestaltung der Klöster sind in allen Traditionen fast gleich.

Die vier buddhistischen Schulen haben ein gemeinsames System monastischer Gelübde (Mulasarvastivada), das aus Indien stammt. Bön hat ein leicht abweichendes System, aber die meisten Gelübde sind die gleichen wie bei den buddhistischen Schulen. Ein hervorstechender Unterschied ist, dass Bönpo-Mönche geloben Vegetarier zu sein. In allen Traditionen rasieren die Mönche ihre Köpfe, leben im Zölibat und tragen das gleiche ärmellose, braune Gewand mit Rock und Schal. Die Bön-Mönche tragen lediglich Blau statt Gelb im Mittelteil ihrer Robe.

Sutra-Studien

Alle tibetischen Traditionen folgen einem Pfad, der Sutra- und Tantra-Studien mit Ritual- und Meditationspraxis verbindet. Die Mönche lernen schon als Kinder ungeheuer viele gelehrte und rituelle Texte auswendig und studieren mit der Methode der Debatte. Die Sutra-Studieninhalte sind die gleichen bei den Buddhisten und den Bönpos. Zu ihnen gehören das Prajnaparamita (Weitreichende Unterscheidung, Vollendung der Weisheit), das von den Stufen des Pfades handelt, Madhyamaka (Mittlerer Weg), das von der richtigen Sicht der Realität (Leerheit) handelt, Pramana (Gültige Wege der Erkenntnis), das Erkenntnistheorie und Logik beinhaltet und Abhidharma (Besondere Bereiche des Wissens), das sich mit Metaphysik befasst. Die tibetischen Textbücher für jedes Studienfach weichen in ihren Interpretationen nicht nur zwischen den fünf Traditionen leicht voneinander ab, sondern auch zwischen den Klöstern innerhalb jeder Tradition. Solche Unterschiede sorgen immer wieder für interessante Debatten. Als Abschluss eines in seiner ganzen Länge durchlaufenen Studiums verleihen alle fünf Traditionen einen akademischen Grad, entweder Geshe oder Khenpo.

Alle vier buddhistischen Schulen Tibets studieren die vier traditionellen philosophischen Richtungen Indiens, nämlich Vaibhashika, Sautrantika, Chittamatra und Madhyamaka. Obwohl sie sie leicht unterschiedlich erklären, akzeptieren alle Schulen Madhyamaka als die Richtung, die den differenziertesten und genauesten Standpunkt vertritt. Alle vier Schulen studieren die gleichen klassischen indischen Texte von Maitreya, Asanga, Nagarjuna, Chandrakirti, Shantideva usw. Auch hier hat jede Schule ihr eigenes Spektrum tibetischer Kommentare, die alle leicht voneinander abweichen.

Tantrastudium und – praxis

Tantrastudium und – praxis umfassen alle vier oder sechs Tantraklassen, je nach Klassifikationsschema. Die vier buddhistischen Traditionen praktizieren viele gemeinsame Buddha-Gestalten (Gottheiten, yidams), wie zum Beispiel Avalokiteshvara, Tara, Manjushri, Chakrasamvara (Heruka) und Vajrayogini (Vajradakini). Kaum eine Yidampraxis ist exklusives Gebiet nur einer Tradition: Die Gelugpas praktizieren auch Hevajra, die zentrale Sakya-Buddha-Gestalt, und die Shangpa-Kagyüpas praktizieren Vajrabhairava (Yamantaka), die zentrale Gelug-Gestalt. Die Buddha-Gestalten im Bön haben ähnliche Attribute wie die im Buddhismus – z.B. Gestalten, die Mitgefühl oder Weisheit verkörpern – , nur andere Namen.

Meditation

Meditation macht es in allen fünf tibetischen Traditionen notwendig, lange Retreats zu unternehmen, oft für drei Jahre und drei Mondphasen. Den Retreats gehen intensive Vorbereitungspraktiken voraus, die Hunderttausende von Niederwerfungen, Mantrarezitationen usw. erfordern. Die Zahl der vorbereitenden Übungen, die Art der Durchführung sowie die Struktur des Drei-Jahres-Retreats sind leicht unterschiedlich in den en Schulen. Dennoch praktiziert jede von ihnen im Grundsatz das Gleiche.

Ritual

Die rituelle Praxis ist sehr ähnlich in allen fünf Schulen. Alle bringen Wasserschalen, Butterlampen und Räucherwerk dar. Alle sitzen in der gleichen Weise mit gekreuzten Beinen, benutzen Vajras, Glocken und Damaru-Handtrommeln, spielen die gleichen Hörnern, Zimbeln und Trommeln, singen mit lauten Stimmen, opfern und kosten geweihtes Fleisch und geweihten Alkohol während besonderer Zeremonien (Tsog) und schenken Buttertee aus während aller rituellen Versammlungen. Den ursprünglichen Bön-Gebräuchen folgend, bringen sie alle Tormas dar (Kegel, die aus mit Butter gemischtem Gerstenmehl geformt werden). Alle rufen lokale Geister an als Beschützer, vertreiben schädliche Geister mit komplexen Ritualen, kneten Butterskulpturen zu besonderen Anlässen und hängen farbenprächtige Gebetsfahnen auf. Alle bewahren Reliquien großer Meister in Stupas auf und umrunden diese, die Buddhisten im Uhrzeigersinn, die Bönpos andersherum. Sogar die Stile ihrer religiösen Kunst ähneln sich sehr stark. Die Proportionen der Figuren bei Gemälden und Statuen folgen immer den gleichen Richtlinien.

Das Tulku-System der reinkarnierten Lamas

In jeder der fünf tibetischen Traditionen gibt es das Tulku-System. Tulkus sind Linien reinkarnierter Lamas, großer Praktizierender, die ihre Wiedergeburten lenken.Wenn sie sterben, verwenden sie gewöhnlich eine besondere Meditationsform für die Sterbezeit und ihre Schüler benutzen dann spezielle Mittel, um ihre Reinkarnationen unter kleinen Kindern zu suchen und ausfindig zu machen, nachdem eine angemessene Zeit verstrichen ist. Die Schüler bringen die jungen Reinkarnationen in ihre Herkunftsfamilien zurück und lassen sie bei den besten Lehrern lernen. Mönche und Laien behandeln die Tulkus aller fünf Traditionen mit dem größten Respekt. Oft konsultieren sie Tulkus und andere große Meister, um ein Mo (eine Wahrsagung) zu erhalten bezüglich wichtiger Angelegenheiten in ihrem Leben, was gewöhnlich so geschieht, dass drei Würfel geworfen werden, während die eine oder andere Buddha-Gestalt angerufen wird.

Obwohl alle tibetischen Traditionen sowohl Textstudium als auch Debatte, Ritual und Meditation betreiben, variieren die Schwerpunkte von Kloster zu Kloster sogar innerhalb der gleichen tibetischen Schule und von Individuum zu Individuum sogar innerhalb des gleichen Klosters. Überdies wechseln sich die Mönche und Nonnen, mit Ausnahme der hohen Lamas und der Alten und Kranken, bei der häuslichen Arbeit ab, die notwendig ist für den Betrieb der Mönchs- und Nonnenklöster: Reinigen der Versammlungsräume, Aufstellen der Opfergaben, Holen von Wasser und Brennstoff, Kochen und Ausschank von Tee. Auch wenn bestimmte Mönche und Nonnen vorwiegend studieren, debattieren, lehren oder meditieren, so macht dennoch für alle die Teilnahme am gemeinsamen Gebet, Singen und Ritual einen beträchtlichen Teil des Tages und der Nacht aus. Zu sagen, Gelug und Sakya legten den Akzent mehr auf das Studium, während Kagyü und Nyingma die Meditation stärker betonten, ist eine oberflächliche Verallgemeinerung.

Gemischte Übertragungslinien

Mehrere Übertragungslinien vermischen und überkreuzen sich zwischen den fünf tibetischen Traditionen. Z.B. führt die Linie des „Guhyasamaja-Tantras“ über den Übersetzer Marpa sowohl zur Kagyü- als auch zur Gelugpa-Schule. Die Mahamudra-Lehren (Großes Siegel), die von der Natur des Geistes handeln, werden, obwohl man sie für gewöhnlich den Kagyü-Linien zuschreibt, auch von der Sakya- und der Gelug-Schule übertragen. Dzogchen (Die Große Vollkommenheit) ist ein anderes Meditations-System über die Natur des Geistes. Obwohl für gewöhnlich der Nyingma-Tradition zugeschrieben, ist es seit der Zeit des Dritten Karmapa auch in der Karma-Kagyü-Schule von Bedeutung wie auch in der Drugpa-Kagyü- und der Bön-Tradition. Der Fünfte Dalai Lama war nicht nur ein großer Gelug-Meister, sondern auch ein großer Dzogchen- und Sakya-Meister, und er schrieb viele Texte über alle diese Traditionen. Wir müssen den Dingen aufgeschlossen gegenüberstehen und begreifen, dass sich die tibetischen Schulen nicht gegenseitig ausschließen. Viele Kagyü-Klöster führen z.B., obwohl sie keine Nyingmas sind, Guru-Rinpoche-Pujas durch.

Unterschiede

Gebrauch von Fachtermini

Was sind nun die Hauptunterschiede zwischen den fünf tibetischen Traditionen? Zu den wichtigsten gehört der Gebrauch von Fachwörtern. Die Bön-Tradition beschäftigt sich zum großen Teil mit den gleichen Dingen wie der Buddhismus, nur benutzt sie dafür unterschiedliche Wörter bzw. Namen. Auch innerhalb der vier buddhistischen Traditionen verwenden die einzelnen Schulen die gleichen Fachwörter mit unterschiedlichen Definitionen. Das stellt tatsächlich ein großes Problem dar, wenn man versucht, den tibetischen Buddhismus als Ganzes zu verstehen. Auch innerhalb einer Tradition definieren verschiedene Autoren die gleichen Termini unterschiedlich, und sogar ein und derselbe Autor definiert sie unterschiedlich in seinen verschiedenen Werken. Wenn wir die genauen Definitionen nicht kennen, die die Autoren für ihre Fachtermini verwenden, können wir in extreme Verwirrung geraten. Lassen Sie mich einige Beispiele geben:

Die Gelugpas sagen, dass der Geist, gemeint ist das Gewahrsein von Objekten, unbeständig ist, während die Kagyüpas und Nyingmapas sagen, dass er beständig ist. Diese beiden Auffassungen scheinen sich zu widersprechen und gegenseitig auszuschließen. Tatsächlich tun sie es aber nicht. Mit „unbeständig“ meinen die Gelugpas, dass das Gewahrsein von Objekten sich von Moment zu Moment verändert, in dem Sinne, dass die Objekte, deren man gewahr wird, sich in jedem Augenblick verändern. Mit „beständig“ meinen die Kagyüpas und Nyingmapas, dass das Gewahrsein von Objekten, ständig weitergeht. Seine grundlegende Natur wird von nichts beeinträchtigt und verändert sich auf diese Weise nie. Jede Seite würde der anderen zustimmen, aber weil sie die Termini mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzen, sieht es so aus, als würden sie sich total widersprechen. Kagyüpas und Nyingmapas würden sicher anerkennen, dass das Gewahrsein eines Individuums von Objekten in jedem Augenblick andere Objekte wahrnimmt oder erkennt, während die Gelugpas der Auffassung zustimmen würden, dass der individuelle Geist ein Kontinuum des Objektgewahrseins ohne Anfang und Ende ist.

Ein anderes Beispiel ist das Wort „abhängiges Entstehen.“ Die Gelugpas sagen, dass alles als abhängiges Entstehen existiert, und sie meinen damit, dass die Dinge als „dies“ oder „das“ existieren in Abhängigkeit von Wörtern und Begriffen, die auf gültige Weise dazu geeignet sind, sie als „dies“ oder „das“ zu benennen. Erkennbare Phänomene sind das, auf was die Wörter und Begriffe, die sie benennen, verweisen.

Auf der Seite der erkennbaren Phänomene gibt es nichts, das ihnen aus eigener Kraft ihre Existenz und ihre Identitäten gibt. Deshalb ist für die Gelugpas Existenz als abhängiges Entstehen gleichbedeutend mit Leerheit: völlige Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen. Die Kagyüpas ihrerseits sagen, dass das Letztendliche jenseits des abhängigen Entstehens ist. Das klingt, als ob sie vertreten würden, dass das Letztendliche eine unabhängige Existenz besitzt, die auf seiner eigenen Kraft beruht, nicht eine bloß abhängig entstandene Existenz. Das ist aber nicht der Fall. Die Kagyüpas benutzen hier „abhängiges Entstehen“ im Sinne von den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens. Das letztendliche oder am tiefsten wahre Phänomen ist jenseits von abhängigem Entstehen in dem Sinne, dass es nicht in Abhängigkeit von Unwissenheit der Wirklichkeit entsteht. Diese Auffassung würden auch die Gelugpas akzeptieren. Sie benutzen lediglich den Terminus „abhängiges Entstehen“ mit einer anderen Definition. Viele der Diskrepanzen in den Auffassungen der tibetischen Schulen rühren von solchen Unterschieden in den Definitionen entscheidender Termini. Das ist eine der Hauptquellen von Verwirrung und Missverständnis.

Blickwinkel der Erklärung

Ein anderer Unterschied zwischen den tibetischen Traditionen liegt in dem Blickwinkel, aus dem sie Phänomene erklären. Nach Auffassung von Katog Kyentse Jamyang-Chökyi-Lodrö, einem Meister der nicht-sektiererischen Rime-Bewegung, erklären die Gelugpas aus dem Blickwinkel des Grundes, also dem der gewöhnlichen Wesen, der Nicht-Buddhas. Die Sakyapas erklären aus dem Blickwinkel des Pfades, also derer, die auf dem Pfad zur Erleuchtung schon extrem weit fortgeschritten sind. Die Kagyüpas und Nyingmapas erklären aus dem Blickwinkel der Frucht, das heißt dem eines Buddha. Da dieser Unterschied ziemlich tiefgehend und schwer zu verstehen ist, lassen Sie mich hier lediglich einen Ausgangspunkt aufzeigen, von dem aus dieses Thema erforscht werden kann.

Aus dem Blickwinkel des Grundes kann man nicht gleichzeitig den Fokus auf Leerheit und Erscheinung richten. Deshalb erklären die Gelugpas sogar die Meditation eines Aryas über die Leerheit aus diesem Blickwinkel. Ein Arya ist ein hochverwirklichtes Wesen mit geradeaus gerichteter, unbegrifflicher Wahrnehmung der Leerheit. Die Kagyüpas und Nyingmapas betonen die Nicht-Trennbarkeit der beiden Wahrheiten Leerheit und Erscheinung. Aus dem Blickwinkel eines Buddha kann man unmöglich nur von Leerheit oder nur von Erscheinung sprechen. Deshalb sprechen sie aus einem Blickwinkel, von dem aus alles schon vollständig und perfekt ist. Die Bön-Darstellung des Dzogchen stimmt mit dieser Art der Erklärung überein. Ein Beispiel der Sakya-Darstellung aus dem Blickwinkel des Pfades ist die Auffassung, dass der Geist des Klaren Lichts (das subtilste Gewahrsein jedes individuellen Wesens) glückselig ist. Wenn das wahr wäre auf der Ebene des Grundes, dann wäre der Geist des Klaren Lichts, der sich im Tode manifestiert, glückselig, was er nicht ist. Auf dem Pfad jedoch verwandelt man den Geist des Klaren Lichts in einen glückseligen Geist. Wenn also die Sakyapas von dem Geist des Klaren Lichts als glückselig sprechen, so tun sie das aus dem Blickwinkel des Pfades.

Welcher Typ eines Praktizierenden wird betont?

Ein weiterer Unterschied ergibt sich aus der Tatsache, dass es zwei Typen von Praktizierenden gibt: diejenigen, die stufenweise vorankommen und diejenigen, bei denen alles auf einmal passiert. Die Gelugpas und Sakyapas sprechen meist aus dem Blickwinkel derer, die sich stufenweise entwickeln. Die Kagyüpas, Nyingmapas und Bönpos sprechen oft, vor allem in ihren Darstellungen der höchsten Tantra-Klasse, aus dem Blickwinkel derer, bei denen alles auf einmal passiert. Obwohl die sich daraus ergebenden Erklärungen so erscheinen mögen, dass jede Seite nur eine Art der Reise auf dem Pfad anerkennt, geht es in Wirklichkeit nur darum, welchen Typ sie in ihren Erklärungen in den Vordergrund stellen.

Herangehensweise an die Leerheitsmeditation im höchsten Tantra

Wie schon erwähnt, akzeptieren alle tibetischen Schulen Madhyamaka als die tiefgründigste Lehre, aber die Art, wie sie die verschiedenen indischen buddhistischen Systeme verstehen und erklären, unterscheidet sich leicht. Der Unterschied tritt darin am stärksten zutage, wie sie Madhyamaka im höchsten Tantra verstehen und erklären. Weil auch dies ein sehr komplexer und tiefgehender Bereich ist, lassen Sie uns hier lediglich versuchen, bis zu einem ersten Verständnis vorzudringen.

Die höchste Tantrapraxis führt dazu, eine geradeaus gerichtete, unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit mit dem subtilsten Geist des Klaren Lichts zu erreichen. Folglich sind zwei Komponenten notwendig: das Gewahrsein des Klaren Lichts und die korrekte Wahrnehmung der Leerheit. Worauf wird in der Meditation der Schwerpunkt gelegt? Beim Ansatz der „Selbst-Leerheit“ liegt die Betonung in der Meditation auf der Leerheit als dem Objekt, das vom Klares-Licht-Gewahrsein wahrgenommen wird. Selbst-Leerheit bedeutet vollständiges Fehlen selbst-existierender Naturen, die den Phänomenen ihre Identitäten geben. Alle Phänomene sind leer davon, in dieser unmöglichen Weise zu existieren. Die Gelugpas, die meisten Sakyapas und die Drigung-Kagyüpas betonen diesen Ansatz, obwohl ihre Erklärungen über die unmöglichen Existenzweisen, von denen die Phänomene leer sind, leicht voneinander abweichen.

Der zweite Ansatz besteht darin, die Meditation über den Geist des Klaren Lichts selbst in den Vordergrund zu stellen, der leer ist von allen gröberen Ebenen des Geistes und des Gewahrseins. In diesem Kontext bekommt das Klares-Licht-Gewahrsein den Namen „Ander-Leerheit“, es ist leer von allen anderen gröberen Ebenen des Geistes. Ander-Leerheit ist der hauptsächliche Ansatz der Karma-, Drugpa- und Shangpa-Kagyüpas, der Nyingmapas und eines Teils der Sakyapas. Alle haben natürlich eine leicht unterschiedliche Art zu erklären und zu meditieren. Einer der wichtigsten Bereiche, auf dem sich die tibetischen Schulen unterscheiden, ist im Übrigen ihre jeweilige Definition von Selbst-Leerheit und Ander-Leerheit, ist die Frage, ob sie die eine oder die andere annehmen oder beide, und worauf sie in der Meditation das Hauptgewicht legen, um Klares-Licht-Gewahrsein der Leerheit zu erreichen.

Abgesehen von diesem Unterschied bezüglich Selbst-Leerheit und Ander-Leerheit lehren alle tibetischen Schulen Methoden, um zum Klares-Licht-Gewahrsein zu gelangen bzw. dessen Äquivalent im Dzogchen-System, Rigpa, reines Gewahrsein. Hier taucht ein anderer bedeutender Unterschied auf. Die Nicht-Dzogchen-Kagyüpas, die Sakyapas und die Gelugpas lehren die Auflösung der gröberen Ebenen des Geistes oder Gewahrseins in Stufen, die zum Geist des Klaren Lichts führen. Die Auflösung wird entweder durch die Arbeit an den subtilen Energiekanälen , Winden, Chakras, usw. erreicht oder indem nach und nach immer glückseligere Gewahrseinszustände im subtilen Energiesystem des Körpers erzeugt werden. Die Nyingmapas, Bönpos und die Praktizierenden der Kagyüpa-Dzogchen-Linien versuchen Rigpa, das den gröberen Ebenen des Gewahrseins zugrunde liegt, zu erkennen und somit zu erreichen, ohne die gröberen Ebenen auflösen zu müssen. Weil sie jedoch vorher in ihrem Training Praktiken mit den Energiekanälen, Winden und Chakras aufgenommen haben, erfahren sie die automatische Auflösung der gröberen Ebenen ihres Gewahrseins ohne weitere bewusste Anstrengung, wenn sie Rigpa schließlich erkennen und erreichen.

Kann Leerheit in Worten ausgedrückt werden?

Es taucht noch ein anderer Unterschied auf: Kann Leerheit in Worten und Begriffen ausgedrückt werden oder ist sie jenseits von beiden? Diese Frage geht einher mit einem Unterschied in der Erkenntnistheorie. Die Gelugpas vertreten,dass wir mit unbegrifflichem Erkennen durch die Sinne, z.B. durch Sehen, nicht nur Formen und Farben, sondern auch Objekte wie z.B. eine Vase wahrnehmen können. Die Sakyapas, Kagyüpas und Nyingmapas vertreten, dass unbegriffliches visuelles Erkennen nur Farben und Formen wahrnimmt. Die Wahrnehmung der Farben und Formen als Objekte erfolgt für sie mittels begrifflicher Erkenntnis, eine Nanosekunde später.

Entsprechend diesem Unterschied bezüglich unbegrifflicher und begrifflicher Wahrnehmung sagen die Gelugpas, dass Leerheit sehr wohl mit Worten und Begriffen ausgedrückt werden kann: Leerheit ist das, auf was sich das Wort „Leerheit“ bezieht. Die Sakyapas, Kagyüpas und Nyingmapas vertreten, dass Leerheit, Selbst-Leerheit wie Ander-Leerheit, jenseits von Worten und Begrifffen ist. Ihre Auffassung stimmt mit der Chittamatra-Erklärung überein: Wörter und Begriffe für Dinge sind künstliche mentale Konstrukte. Wenn jemand „Mutter“ denkt, dann ist das Wort bzw. der Begriff nicht wirklich seine Mutter. Das Wort ist lediglich ein Zeichen, das benutzt wird, um seine Mutter darzustellen. Man kann seine Mutter nicht wirklich in ein Wort stecken.

Der Gebrauch der Chittamatra-Terminologie

Tatsächlich benutzen Sakyapas, Kagyüpas und Nyingmapas viel Chittamatra-Vokabular, sogar in ihren Madhyamaka-Erklärungen, insbesondere, was das höchste Tantra betrifft. Die Gelugpas tun das sehr selten. Wenn die Nicht-Gelugpas Chittamatra-Fachbegriffe in den Madhyamaka-Erklärungen zum höchsten Tantra verwenden, dann definieren sie sie jedoch anders, als wenn sie sie im bloßen Chittamatra-Sutra-Kontext verwenden. Zum Beispiel ist Alayavijnana (grundlegendes Bewusstsein) eine der acht Arten begrenzten Bewusstseins im Sutra- Chittamatra-System. Im Kontext des höchsten Tantra des Madhyamaka ist grundlegendes Gewahrsein ein Synonym für den Geist des Klaren Lichts, der sich bis in die Buddhaschaft fortsetzt.

Zusammenfassung

Dies sind einige der wichtigsten Bereiche, auf denen es Unterschiede in grundsätzlichen Fragen der Philosophie und Meditation gibt. Wir könnten hier in viele, viele Details gehen, aber ich denke, es ist sehr wichtig, nie die Tatsache aus dem Auge zu verlieren, dass achtzig Prozent oder mehr der Merkmale der tibetischen Schulen die gleichen sind. Die Unterschiede zwischen den Schulen liegen meist darin, wie sie Fachbegriffe definieren, von welchem Blickwinkel aus sie erklären und welchen Meditationsansatz sie benutzen, um ein Klares-Licht-Gewahrsein der Leerheit zu erreichen.

Vorbereitende Übungen

Überdies ist das allgemeine Training für die Praktizierende in jeder der Traditionen das gleiche. Nur im Stil und in einigen Praktiken gibt es Unterschiede. Zum Beispiel schließen die meisten Kagyüpas, Nyingmapas und Sakyapas das volle Programm der Vorbereitungen für die Tantra-Praxis (die hunderttausendmal wiederholten Niederwerfungen usw.) als eine große Veranstaltung in einem frühen Stadium ihres Trainings ab, oft als ein gesondertes Retreat. Für die Gelugpas ist typisch, dass sie diese Übungen einzeln in ihre Zeitpläne einbauen, gewöhnlich dann, wenn sie ihre grundlegenden Studien abgeschlossen haben. Jedoch wiederholen Praktizierende aller Traditionen die volle Reihe aller Vorbereitungen zu Beginn eines Drei-Jahres-Retreats.

Drei-Jahres-Retreat

Kagyüpas, Nyingmapas und Sakyapas üben sich für gewöhnlich während eines Drei-Jahres-Retreats in einer Anzahl von Sutra-Meditationspraktiken und anschließend in den grundlegenden rituellen Praktiken der Haupt-Buddha-Gestalten ihrer Linien, und widmen dabei nacheinander jeder Praxis mehrere Monate. Sie lernen auch die Musikinstrumente der Zeremonien zu spielen und Tormas zu modellieren und darzubringen. Die Gelugpas bekommen das gleiche Training in Meditation und Ritualen, wobei sie die Praktiken einzeln in ihre Zeitpläne einbauen, so wie sie das mit den Vorbereitungen machen. Das Drei-Jahres-Retreat der Gelugpas ist auf die intensive Praxis mit nur einer Buddha-Gestalt ausgerichtet. Die Nicht-Gelugpas verbringen gewöhnlich drei oder mehr Jahre in einem Retreat zu nur einer Tantra-Praxis erst in ihrem zweiten oder dritten Drei-Jahres-Retreat, nicht schon im ersten.

Die Teilnahme an der vollen klösterlichen Ritualpraxis einer Buddha-Gestalt erfordert den Abschluss eines mehrmonatigen Retreats und dabei die mehreren hunderttausend Wiederholungen bestimmter Mantras. Man kann keine Selbst-Initiation durchführen, ohne diese Praxis abgeschlossen zu haben. Ob die Gelugpas diesem Erfordernis nachkommen, indem sie ein besonderes mehrmonatige Retreat machen oder die Nicht-Gelugpas, indem sie diese Praxis als Teil eines Drei-Jahres-Retreats durchführen: Die meisten Mönche in allen Traditionen machen solche Retreats. Nur die fortgeschrittenen Praktizierenden jeder Tradition jedoch machen Drei-Jahres-Retreats, die sich auf nur eine Buddha-Gestalt konzentrieren.

Schlussfolgerung

Es ist sehr wichtig, einen nicht-sektiererischen Standpunkt in Bezug auf die fünf tibetischen Traditionen des Buddhismus und Bön zu bewahren. Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama immer wieder hervorhebt, teilen diese verschiedenen Traditionen ein und dasselbe letztendliche Ziel: Alle lehren sie Methoden, wie man Erleuchtung erlangt, um anderen von größtmöglichem Nutzen zu sein. Jede Tradition ist eine gleichermaßen wirksame Hilfe für ihre Praktizierenden, dieses Ziel zu erreichen und somit passen sie harmonisch zusammen, wenn auch nicht auf einfache Weise. Auch wenn wir nur eine kurze vergleichende Untersuchung der fünf Traditionen unternehmen, können wir lernen, die einzigartigen starken Seiten unserer Tradition wertzuschätzen und zu sehen, dass jede Tradition ihre eigenen hervorragenden Merkmale hat. Wenn wir den Wunsch haben, Buddhas zu werden und allen zu nützen, müssen wir möglicherweise das gesamte Spektrum buddhistischer Traditionen lernen und begreifen, wie sie zusammenpassen, so dass wir für Menschen unterschiedlicher Neigungen und Fähigkeiten Lehrer sein können.

Sonst laufen wir Gefahr „den Dharma aufzugeben“, d.h. eine authentische Lehre des Buddhas in Misskredit zu bringen, wodurch wir uns unfähig machen, denen zu nützen, für die der Buddha die entsprechende Lehre als angemessen erachtete.

Es ist schließlich wichtig, in unserer persönlichen Praxis nur einer Linie zu folgen. Niemand kann den Gipfel eines Gebäudes erreichen, indem er fünf verschiedene Treppen gleichzeitig hochsteigt. Wenn unsere Kapazitäten es jedoch erlauben, dann hilft uns das Studium der fünf Traditionen, die starken Seiten einer jeden zu erkennen. Das wiederum kann uns helfen, Klarheit über diese Punkte in unserer eigenen Tradition zu gewinnen, wenn sie hier weniger gründlich behandelt werden. Das ist es, was Seine Heiligkeit der Dalai Lama und alle großen Meister immer wieder betonen.

Es ist auch sehr wichtig zu sehen, dass bei allem, was wir tun, sei es im spirituellen oder materiellen Bereich, es vielleicht zehn, zwanzig oder dreißig verschiedene Weisen gibt, eine und dieselbe Sache zu machen. Das hilft uns zu vermeiden, dass wir unserer eigenen Herangehensweise anhaften. Wir sehen das Wesentliche klarer, statt gefangen zu bleiben in: „Dies ist die korrekte Herangehensweise, weil es meine korrekte Herangehensweise ist.“

Welche Fragen möchten Sie stellen?

Fragen

Welcher Tradition folgen Sie?

Seine Heiligkeit der Dalai Lama und einer seiner Lehrer, Serkong Rinpoche, haben mich immer ermutigt, ihrem Beispiel zu folgen, nämlich alle tibetischen Traditionen so intensiv zu studieren und zu praktizieren, wie ich kann, und dabei den Schwerpunkt auf die Gelug-Tradition zu setzen. Ich habe versucht, dieser Richtlinie nach besten Kräften zu folgen.

Ist es nicht verwirrend, Meditationen von mehreren verschiedenen Traditionen zu praktizieren? Ist es nicht sogar verwirrend, viele verschiedene Buddha-Gestalten innerhalb einer Tradition zu praktizieren?

Es gibt verschiedene Arten, an buddhistische Praxis heranzugehen, besonders an Tantra. Eine tibetische Redensart ist: „Die Inder praktizierten mit einer Buddha-Gestalt und verwirklichten hundert, während die Tibeter mit hundert Gestalten praktizieren und keine einzige verwirklichen!“ Der Sinn dieser Redensart ist, dass es wichtig ist, mit einer Praxis in die Tiefe zu gehen, wenn wir mit mehreren irgendwohin gelangen wollen. Das Ausmaß unserer Praxis hängt von unseren individuellen Kapazitäten ab. Um diese Kapazitäten auszumessen, müssen wir sowohl ehrlich uns selbst betrachten als auch den Rat unserer Lehrer berücksichtigen.

Wenn wir in der Lage sind, Tantra-Praktiken mehrerer tibetischer Linien aufzunehmen, dann ist es wichtig, gemäß der Warnung Seiner Heiligkeit, keinen Mischmasch aus ihnen zu machen. Wir müssen jede Praxis individuell, gemäß ihrer eigenen Tradition, auf ihre eigene Weise, angehen. Für den Fall, dass wir es verwirrend finden, mehrere Praktiken gleichzeitig zu machen, rät Seine Heiligkeit, dass es das beste ist, nicht auf alle das gleiche Gewicht zulegen. Wenn wir Ermächtigungen und Praktiken verschiedener Übertragungslinien oder auch nur für mehrere Buddha-Gestalten innerhalb einer Linie empfangen haben und wir finden das verwirrend, dann können wir einfach die karmische Verbindung mit einigen von ihnen aufrechterhalten, indem wir das entsprechende Mantra dreimal täglich rezitieren. Und wir vertiefen dann lediglich die Praktiken, für die wir das meiste Verständnis haben und mit denen wir uns am stärksten verbunden fühlen.

Ich glaube, dass die Fähigkeit, mehrere Praktiken aufzunehmen, davon abhängt, wie gut wir die allgemeine Theorie des Tantra verstehen. Wenn wir die Theorie richtig verstehen, dann können wir sehen, wie jede besondere Praxis zu den anderen passt. Sonst läuft unsere Tantra-Praxis Gefahr, schizophren zu werden.

Können Sie bitte den Rat Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, Praktiken nicht zu vermischen, näher ausführen?

Ein Grund dafür, dass man Praktiken nicht vermischt bzw. verfälscht, ist, dass man der Übertragungslinie und Tradition Respekt erweist. Zu mischen wäre, wie wenn man in eine katholische Kirche ginge und drei Niederwerfungen vor dem Altar machte, während alle anderen niederknien und sich bekreuzigen. Der Fünfte Dalai Lama ist ein gutes Beispiel für jemand, der Meister in verschiedenen Traditionen war, sie aber nie vermischte. Wenn er Gelug-Texte verfasste, dann schrieb er sie vollständig im Gelug-Stil; wenn er Sakya-Texte verfasste, waren sie von vorne bis hinten im Sakya-Stil; und wenn er Nyingma-Texte schrieb, war es vollkommen im Nyingma-Stil. Nyingma-Texte beginnen mit einem Lobpreis Padmasambhavas, nicht Tsongkhapas.

Ein anderer Grund, jede Praxis rein zu halten ist, dass in der Sadhana-Visualisierungs-Praxis einer Tradition zum Beispiel die einzelnen Bestandteile der Praxis, das Vokabular und die Ausdrucksweise ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Sie passen harmonisch zusammen wie die Teile eines bestimmten Autotyps. In der Hevajra-Praxis der Sakya-Tradition zum Beispiel, fehlt im Gebet der Sieben Zweige die Bitte an die Buddhas, dass sie die Welt nicht verlassen mögen. Und zwar deswegen, weil die Lamdre-Lehren (die Pfade und ihre Resultate) der Sakya-Tradition mehr Gewicht auf die Sambhogakaya-Manifestationen der Buddhas legen, die solange bleiben, bis jedes Wesen frei von allem Leiden ist, als auf die Nirmanakaya-Erscheinungen, die die Unbeständigkeit lehren, indem sie sterben. Die Sambhogakaya-Betonung zeigt sich auch in der Art und Weise, wie man die Selbst-Visualisierung als Buddha-Gestalt stabilisiert und die Ermächtigungen erhält. Wenn man in eine Sakya-Lamdre-Praxis ein Sieben-Zweige-Gebet im Stil der Gelugpas hineinmischt, das die Bitte an die Buddhas enthält, die Welt nicht zu verlassen, dann ist das wie der Versuch, ein Volkswagenteil in einen Fordmotor einzubauen. Es funktioniert einfach nicht.

Gibt es Beispiele dafür, dass sich die Praktiken verschiedener Linien verbunden haben?

In einigen Fällen, wo Praktiken aus einer Linie in eine andere eingeführt wurden, wurden sie sie in ihren Ursprungsformen rein erhalten. Zum Beispiel ist die Gelugpa-Praxis des Hayagriva-Yangsang aus den Schatztexten, die der Fünfte Dalai Lama enthüllte, rein in dem gleichen Stil wie alle Nyingma-Sadhanas gehalten.

In einigen Fällen wurde ein Teil der Praxis verändert zu einer Praxis der Linie, in die sie übernommen worden war. Zum Beispiel hat die Vajrayogini-Praxis, die aus der Sakya- in die Gelug-Tradition gebracht wurde, die meisten Merkmale typischer Gelug-Sadhanas. Sie setzt lediglich die Gelug-Leerheits-Meditation an die Stelle derer im Sakya-Stil.

Manchmal findet man jedoch auch Mischformen. Zum Beispiel enthält die Guru-Rinpoche-Praxis der Karma-Kagyü-Tradition die meisten Bestandteile eines Nyingma-Sadhana, ist aber typisch Karma-Kagyü in der Terminologie und in der Herangehensweise an die Leerheits-Meditiation. In der Sadhana-Praxis des Karma Pakshi (des Zweiten Karmapa) ist, obwohl Guru Rinpoche in Karma Pakshis Herz sitzt und eine der Darbringungen dem Nyingma-Stil ähnelt, der große Rest der Praxis typisch Karma-Kagyü. Die hauptsächliche Mischform ist die Selbst-Visualisierung als eine Buddha-Gestalt in der Form eines großen Meisters einer Übertragungslinie. Man muss jedoch ein sehr großer Meister sein mit weit reichender Weisheit, um eine Synthese herzustellen. Es ist nicht tabu, erfordert aber große Vorsicht. Für gewöhnliche Wesen wie uns führt die Herstellung neuer Synthesen bloß in die Verwirrung.

Wenn unsere Hauptpraxis Gelug ist und wir auch Dzogchen praktizieren wollen, was ist dann der beste Weg, dies zu tun?

Der beste Weg ist, Dzogchen als Extrameditation zu praktizieren. Es ist wie in der Schule: Wenn wir Mathe haben, haben wir Mathe. Wenn wir einen Aufsatz schreiben, schreiben wir einen Aufsatz. Wir haben in jedem Augenblick nur in einem Fach Unterricht. Am Ende passt alles, was wir lernen, in unserer eigenen Entwicklung zusammen.

Viele Menschen sind überfordert, wenn sie eine Vielfalt von Methoden praktizieren, also sollten sie es nicht tun. Besser ist es, an einem Praxisstil festzuhalten, bei gleichzeitiger Wertschätzung der Gültigkeit unterschiedlichster buddhistischer Methoden. Sonst könnten wir zu einem anderen Dharma-Zentrum gehen, andere Praktizierende treffen und sehen, dass sie etwas ein bisschen anders machen als wir. Als Anhänger einer tibetischen Tradition könnten wir zum Beispiel zu einem Zen-Zentrum gehen und sehen, wie dessen Mitglieder Niederwerfungen machen. Unsere Ohren stellen sich auf wie die eines Kaninchens vor Autoscheinwerfern und uns stockt der Atem: „Das ist falsch! Sie drehen die Handflächen am Boden nach oben, nicht nach unten! Sie werden in die Hölle kommen!“ Unser Schock und unser Entsetzen kommen daher, dass wir keine genügend umfassende buddhistische Bildung haben. Alle chinesischen Buddhisten machen ihre Niederwerfungen so. Obwohl einige tibetische Meister einen fundamentalistischen Standpunkt bezüglich ihrer Traditionen einnehmen, müssen wir ihrem Beispiel nicht folgen.

Wie können wir erkennen, welche Tradition zu uns um besten passt?

Das ist nicht leicht. In Tibet gingen die Menschen immer zu den Klöstern und Lehrern, die in ihren Tälern vorhanden waren. Diejenigen, die das Gefühl hatten, dass ihnen das nicht reichte und die den Wunsch hatten, noch mehr zu studieren, gingen nach ihrer buddhistischen Grundausbildung woandershin. Einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargyey, kam zum Beispiel als kleines Kind in ein Sakya-Kloster am Ort, aber als er älter wurde, ging er seinem Hauptstudium in Gelug-Klöstern nach, erst in seinem Bezirk und dann weit weg in Lhasa.

Die Situation hier im Westen heute ist sehr anders. In vielen Städten ist eine breite Auswahl vorhanden, die es möglich macht, sich in verschiedenen Dharma-Zentren umzusehen. Schließlich müssen wir jedoch eine Übertragungslinie wählen, innerhalb derer wir unser hauptsächliches Studium und unsere Praxis konzentrieren. Wenn wir unsere ganze Zeit damit verbrächten, uns bloß umzugucken, aber nie etwas zu kaufen, wäre das traurig. Wenn wir uns automatisch heimisch und wohl fühlen bei einer bestimmten Linie, bei einem bestimmten Lehrer, dann ist das ein gutes Zeichen, dass wir eine karmische Verbindung haben. Es „fühlt sich richtig an.“

Bei der Wahl einer Linie oder eines Lehrers ist es wichtig, aufgeschlossen zu bleiben und nicht die Haltung einzunehmen: „Ich gehe nur zu meinem Dharma-Zentrum. Ich werde keinen Fuß in ein anderes Zentrum setzen, ich werde mir keinen anderen Lehrer anhören.“ Ich denke, damit verbauen wir uns viele ausgezeichnete Möglichkeiten mehr zu lernen. Andererseits ist es nicht nötig, überall hinzugehen. Besser ist es, unterscheidendes Gewahrsein anzuwenden und einem „mittleren Weg“ zu folgen.

Wenn wir in einer abgelegenen Gegend wohnen, in der es wenig Möglichkeiten gibt, den Dharma zu studieren, müssen wir wahrscheinlich dem traditionellen tibetischen Beispiel folgen. Wir können damit beginnen, dass wir zu dem nächstgelegenen, am bequemsten zu erreichenden Zentrum bzw. Lehrer gehen. Wenn sie uns gefallen, ist das wunderbar. Wenn wir sie unbefriedigend finden, dann lernen wir mit Respekt soviel wir können, und wenn sich die Möglichkeit ergibt, können wir Studium und Praxis woanders fortsetzten.

Wenn wir diesem Muster folgen, dann sollten wir das möglicherweise aufkommende Gefühl loslassen, dass unser Überwechseln zu anderen Lehrern, Zentren oder Linien ein Akt der Untreue und des Verrats gegenüber unserm Herkunftszentrum oder – lehrer ist. Von der Oberschule auf die Universität überzuwechseln ist kein Verrat an unserer Oberschule und den dortigen Lehrern. Das Gleiche gilt für den Übergang von einer Universität zu einer anderen, wenn wir feststellen, dass unsere bisherige Universität nicht das Curriculum oder das Studienniveau anbietet, das wir wünschen. Wenn wir Respekt und Wertschätzung bewahren für die Lehrer, die wir hatten, und ihre Unterweisungen, dann liegt in solch einem Wechsel nichts, für das man sich schuldig fühlen oder sich Vorwürfe machen sollte.

Wie sollte man am besten mit den Widerlegungen philosophischer Standpunkte anderer Traditionen, die wir in den Texten der einzelnen tibetischen Schulen finden, umgehen?

Seine Heiligkeit der Dalai Lama und einige der größten Meister der Vergangenheit haben betont, dass, obwohl die tibetischen Schulen – und sogar innerhalb einer Schule die Textbücher der verschiedenen Klöster – Meinungsunterschiede in sekundären Bereichen aufweisen, ihre Standpunkte zu den wichtigsten Fragen nicht widersprüchlich sind. Darüber hinaus – und hierauf weist Seine Heiligkeit ebenfalls hin – waren verschiedene große Meister der Vergangenheit nicht besonders begabt, ihre Meditationserfahrungen in einer logischen oder konsequenten Weise zu erklären. Wenn wir jedoch ihre Praxis und ihre Verwirklichungen unvoreingenommen überprüfen, kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass sie authentische Resultate erreicht haben.

Viele Texte enthalten scharfe Debatten zwischen Gelehrten, nicht nur zweier Schulen, sondern auch innerhalb einer Schule. Manchmal tauchen in den Texten grobe, verletzende Bemerkungen auf. Wir können diese Debatten als Gefechte zwischen verfeindeten Parteien ansehen, aber eine solche Haltung hindert uns daran, aus den Inhalten der Debatte Nutzen zu ziehen. Wenn wir die Sache von einem distanzierteren Blickpunkt aus betrachten, dann können wir hören, dass ihre Worte zum Beispiel andeuten: „Wenn du sagst, dass der Geist beständig ist, ohne klar zu definieren, was du unter ‚ beständig’ verstehst, dann werden einige diesen Terminus nach meiner Definition verstehen. Das wird sie dann sehr verwirren, weil diese oder jene absurde Schlussfolgerung oder Inkonsequenz daraus folgt, wenn man ‚beständig’ so definiert, wie ich es tue, und diese Eigenschaft dann dem Geist zuschreibt.“ Ich glaube, dies ist eine Art, zu einem unvoreingenommenen Schluss zu gelangen angesichts dieser Debatten mit starken Worten.

Viele tibetisch-buddhistische Lamas haben sehr negativ über die Bön-Tradition gesprochen bzw. geschrieben.

Die Vorurteile gegen die Bönpos stammen noch aus der Zeit der Eroberung von Zhang-Zhung, der Heimat des Bön in Westtibet und seiner Eingliederung in das erste tibetische Reich in Zentraltibet. Ursprünglich bezog sich der Terminus Bönpo auf Minister und andere Amtsträger, die aus Zhang-Zhung kamen, nicht auf diejenigen, die die Zhang-Zhung-Rituale ausführten am kaiserlichen Hof. Das Vorurteil gegen die Bönpos stammen ursprünglich aus dem politischen Bereich, nicht aus dem des religiösen Glaubens oder der religiösen Praktiken. Seine Heiligkeit betont, dass diese Vorurteile spalterisch und negativ sind. Das Beste wäre, wenn die Anhänger des tibetischen Buddhismus daran arbeiteten, sie aus ihren Köpfen zu entfernen.

Wenn wir den Standpunkt der jungianischen Psychologie einnehmen, dann können wir, denke ich, Einblick gewinnen in die historische Entwicklung des Anti-Bön-Vorurteils. Im Laufe der Zeit wurde die Praxis, den geistigen Lehrer als Buddha zu sehen, zunehmend betont. In dem Maße, wie die sogenannte „Guru-Hingabe“ zunahm, waren viele Praktizierende, die noch kein stabiles Niveau emotionaler Ausgewogenheit erreicht hatten, unfähig, diese Praxis in einer gesunden Weise zu verarbeiten. Je mehr sie die Seite der Vollkommenheit auf ihren Lehrer projizierten, desto mehr stärkten sie die verborgene negative Seite – was Jung den „Schatten“ nennt. Sie projizierten diesen auf die so genannten „Dharma-Feinde“. Das meiste von dieser Projektion bekamen die Bönpos ab.

Wie mein guter Freund Dr.Martin Kalff, ein tibetisch-buddhistischer Lehrer und jungianischer Psychologe, mir darlegte, weist der Bericht über Buddha Shakyamuni, der unter dem Bodhi-Baum meditiert und von Mara, der Verkörperung von Einmiscvhung und Negativität, angegriffen wird, auf dieses psychologische Prinzip hin. Bewusste Betonung unserer positiven Seiten bringt unbewusste Betonung unserer negativen Seiten als Gegengewicht mit sich. Erst als Shakyamuni bewies, dass Mara ihm nichts mehr anhaben konnte, erreichte er Erleuchtung.

Es ist von Bedeutung, dass die buddhistischen Linien mit der leidenschaftlichsten Hingabe an den Guru oft die sind, die mit den wildesten und blutrünstigsten Beschützern praktizieren. Es scheint, dass je mehr sie ihre Gurus verehren, sie sich desto mehr darauf fixieren, die Feinde des Dharma zu zerstören. Diese Polarisierung ist sehr ungesund. Es ist sehr wichtig, dass wir als westliche Praktizierende nicht dieser Tendenz anheim fallen, die Gurus unserer Linie zu vergöttern und die Lehrer anderer Linien oder Religionen zu verteufeln.

Welches ist die größte tibetische Linie?

Die Gelug-Tradition hat die größte Anhängerschaft in Tibet und der Mongolei. Unter den Exil-Tibetern hat Gelug ebenfalls die größte Zahl von Anhängern. Unter den Westlern und Ostasiaten, die traditionell nicht tibetisch-buddhistisch waren, scheint Karma Kagyü die größte Gruppe zu sein. In der tibetischen Exilregierung ist jedoch jede tibetische Tradition gleichermaßen vertreten.

Hat Seine Heiligkeit irgendwo Gedanken geäußert über die Nützlichkeit, die fünf tibetischen Traditionen zu erhalten oder die Vorteile, sie in einer Tradition zu kombinieren?

Weder der Dalai Lama noch andere tibetische geistige Führer haben die Macht oder Autorität, solche Veränderungen vorzunehmen. Seine Heiligkeit begrüßt die Vielfalt der spirituellen Traditionen, weil sie den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen entgegenkommen. Dennoch hat Seine Heiligkeit auf der Nicht-sektiererischen Konferenz, die ich vorhin erwähnte, die Einrichtung eines Komitees empfohlen, das einen Korpus gemeinsamer Gebete auswählen soll aus den tibetischen Übersetzungen indisch-buddhistischer Gebete – z.B. Shantidevas Gebet -, der von allen tibetischen Traditionen als gemeinsame Liturgie akzeptiert werden könnte, wenn sie gemeinsam tagen. Die Fähigkeit, gemeinsam zu beten, würde die Traditionen nicht abschaffen, sie aber näher zusammenbringen. Die Anregung Seiner Heiligkeit wäre zweifellos auch hilfreich für die buddhistischen Zentren im Westen.

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