Die Bedeutung von Tantra

Die Definition des Wortes Tantra

Buddhas Lehren beinhalten sowohl Sutras wie Tantras. Die Sutras stellen die grundlegenden Themen der Praxis dar, um Befreiung von unkontrollierbaren, wiederholten Problemen (Skt. samsara) zu erlangen und darüber hinaus den erleuchteten Zustand eines Buddha zu erreichen, mit der Fähigkeit, anderen auf bestmögliche Weise zu helfen. Zu den dargestellten Themen gehören Methoden zur Entwicklung ethischer Selbstdisziplin, von Konzentration, Liebe, Mitgefühl und einem korrekten Verständnis davon, wie die Dinge tatsächlich existieren. Die Tantras präsentieren fortgeschrittene Praktiken, die auf den Sutras basieren.

Das Sanskrit-Wort Tantra bedeutet die Kette (der gespannte Längsfaden) eines Webstuhls oder die Stränge eines Zopfes oder Geflechts. Wie die Kettfäden eines Webstuhls dienen die Tantra-Praktiken als Struktur, um die Sutra-Themen zu einem Teppich der Erleuchtung zu verweben. Zudem vereint Tantra körperliche, verbale und geistige Ausdrucksformen der jeweiligen Praxis und verflicht sie zu einem Strang, wodurch ein ganzheitlicher Pfad der Entwicklung erzeugt wird. Da es nicht möglich ist, alle Sutra-Themen zu integrieren und gleichzeitig zu praktizieren, ohne sich vorher in jeder einzeln zu üben, ist Tantra-Praxis extrem fortgeschritten.

Die Wurzel des Wortes Tantra bedeutet, ohne Unterbrechung anzudauern oder weiterzugehen. Mit der Betonung auf diese Bedeutung übersetzten die tibetischen Gelehrten den Begriff mit gyü (tib. rgyud), was ungebrochene Kontinuität bedeutet. Hier ist eher eine zeitliche Kontinuität gemeint, wie bei einer Abfolge von Momenten in einem Film, statt eine räumliche Kontinuität, wie bei einer Reihe von Platten auf einem Gehsteig. Zudem ähneln die Sequenzen, die im Tantra diskutiert werden, ewig andauernden Filmen: sie haben weder Anfang noch Ende.

Zwei Filme sind nie gleich, und selbst bei zwei Kopien desselben Films kann es sich nie um dieselbe Filmrolle handeln. Auf ähnliche Weise behalten immer währende Abfolgen immer ihre Individualität. Darüber hinaus wird ein Einzelbild nach dem anderen gezeigt, und alles ändert sich von Bild zu Bild. Auf gleiche Weise sind die Momente der immer währenden Abfolgen kurzlebig, und es taucht immer nur ein Moment nach dem anderen auf, ohne dass es etwas Festes gäbe, dass die ganze Abfolge hindurch andauern würde.

Geistige Kontinua als Tantras

Das beste Beispiel für eine immer währende Abfolge ist das geistige Kontinuum (der Geistesstrom), die immer währende Abfolge von Momenten eines individuellen Geistes. Geist bezeichnet im Buddhismus ein individuelles, subjektives, bloßes Erfahren oder Erleben von etwas und nicht ein physisches oder immaterielles Objekt, das entweder das Erlebende oder das Werkzeug ist, das jemand benutzt, um Dinge zu erleben. Darüber hinaus ist ein geistiges Kontinuum nicht ein Fluss von Erfahrungen, die sich ansammeln, so dass ein Mensch mehr Erfahrung hat als ein anderer. Ein geistiges Kontinuum besteht einfach aus einer ununterbrochenen Folge von Momenten geistiger Tätigkeit – dem bloßen Erleben von Dingen. Zu den erlebten Dingen gehören unter anderem Anblicke, Klänge, Gefühle, Gedanken, Schlaf und sogar Tod. Lediglich oder bloß legt nahe, dass ihr Erleben nicht vorsätzlich, emotional bewegend oder sogar bewusst sein muss.

Darüber hinaus ist das Erleben von etwas immer individuell und subjektiv. Zwei Menschen mögen die Erfahrung machen, denselben Film zu sehen, doch ihre Erfahrung damit ist nicht dieselbe – der eine mag den Film vielleicht, der andere vielleicht nicht. Wie sie den Film erleben hängt von vielen gegenseitig abhängigen Faktoren ab, wie von ihrer Laune, ihrer Gesundheit, ihrer Begleitung und selbst ihren Sitzen.

Individuelle Wesen sind jene mit geistigen Kontinua. In jedem Moment ihrer Existenz erleben sie etwas. Sie handeln mit Intention – selbst wenn diese nicht konzeptuell geplant sein mag – und erleben subjektiv die unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen dessen, was sie tun. Daher ändern sich die geistigen Kontinua individueller Wesen – ihr Erleben von Dingen – von einem Moment zum anderen, genau wie sie selbst, und ihre geistigen Kontinua setzen sich von einem Leben zum nächsten fort, ohne Anfang oder Ende. Der Buddhismus sieht es nicht nur als Tatsache, dass geistige Kontinua ewiglich andauern, sondern auch, dass geistigen Kontinua jeglicher absoluter Anfang fehlt, sei es durch das Werk eines Schöpfers, aus Materie bzw. Energie oder aus dem Nichts.

Individuelle Wesen und daher auch geistige Kontinua interagieren miteinander, bleiben jedoch unterschiedlich, selbst in der Buddhaschaft. Obwohl Buddha Shakyamuni und Buddha Maitreya in ihrem Erlangen der Erleuchtung gleich sind, sind sie nicht dieselbe Person. Jeder hat einzigartige Verbindungen zu unterschiedlichen Wesen, was die Tatsache erklärt, warum einige Individuen einem bestimmten Buddha begegnen und von ihm profitieren können und nicht von einem anderen.

Filme behalten ihre Individualität, ohne dass sie innewohnende fixierte Kennzeichen benötigen oder enthalten, wie ihren Titel, der als Teil jedes Moments immer präsent ist und dem Film aus eigener Kraft seine individuelle Identität verleiht. Filme behalten ihre Individualität, indem sie sich lediglich auf ineinander verwobene, sich ändernde Faktoren stützen, wie die vernünftig arrangierte Abfolge von Einzelbildern. Auf gleiche Weise setzen sich geistige Kontinua ohne innewohnende fixierte Kennzeichen wie Seele, Selbst oder Persönlichkeit fort, die während eines Lebens und von einem Leben zum nächsten unbeeinflusst und unveränderlich bleiben und die ihnen aus eigener Kraft individuelle Identität verleihen würden. Um ihre individuelle Identität aufrecht zu erhalten, stützen sich geistige Kontinua lediglich auf ineinander verwobene, sich ändernde Faktoren, wie vernünftige Abfolgen des Erlebens von Dingen gemäß der Prinzipien von verhaltensbedingter Ursache und Wirkung (Skt. karma). Selbst auf einer allgemeineren Ebene fehlt geistigen Kontinua eine inhärente, fixierte Identität wie als Mensch, Mücke, männlich oder weiblich. Je nach ihren Handlungen erscheinen Individuen in jedem Leben in unterschiedlichen Formen – manchmal mit mehr Leid und Problemen, manchmal mit weniger.

Der Begriff Tantra in Bezug auf die Buddha-Natur

Obwohl es geistigen Kontinua – und daher individuellen Wesen – an einer innewohnenden Seele mangelt, die ihnen aus eigener Kraft ihre Identität verleiht, haben sie dennoch andere Merkmale, die sie als integrale Facetten ihrer Natur begleiten. Diese innewohnenden Facetten sind auch Tantras – Abfolgen von Momenten ohne Anfang oder Ende. Die immer währenden innewohnenden Facetten, die sich in die erleuchtenden Facetten eines Buddhas verwandeln oder jedem geistigen Kontinuum gestatten, das Kontinuum eines Buddhas zu werden, sind die Buddha-Natur-Faktoren dieses Kontinuums.

So wird die Abfolge von Momenten eines jeden geistigen Kontinuums zum Beispiel ständig von ununterbrochenen Abfolgen von Momenten körperlicher Erscheinung, von Kommunikation und geistiger Tätigkeit (Körper, Sprache, Geist), dem Vorhandensein guter Eigenschaften sowie von Aktivität begleitet, auch wenn diese fünf in jedem Moment eine andere Form haben mögen. Die körperliche Erscheinung mag für das menschliche Auge unsichtbar sein; die Kommunikation mag unbeabsichtigt und nur mittels Körpersprache stattfinden, und die geistige Funktion mag minimal sein, wie im Schlaf oder bei Bewusstlosigkeit. Gute Eigenschaften, wie Verständnis, Fürsorge und Fähigkeit mögen in kleinstem Ausmaß oder nur latent vorhanden sein, und Aktivität findet vielleicht lediglich in Form einer unbewussten Reaktion statt. Dennoch bedeutet individuell und subjektiv jeden Moment etwas zu erleben, dass kontinuierlich eine körperliche Erscheinung, eine gewisse Form von Kommunikation einer Information, ein wenig geistige Tätigkeit, ein gewisses Maß an guten Eigenschaften und etwas Aktivität vorhanden sein müssen.

Die Tatsache, dass das geistige Kontinuum eines jeden Wesens in jeder Wiedergeburt von ununterbrochenen Abfolgen von Momenten der fünf Facetten begleitet wird, erklärt die Tatsache, dass Abfolgen von den fünfen das Kontinuum eines jeden Wesens begleiten, selbst als Buddha. Von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, treten selbst nach der Erleuchtung Momente der fünf weiterhin in ununterbrochener Abfolge auf, nur dass sich ihre Formen nun als die fünf erleuchtenden Facetten eines Buddha manifestieren. Sie sind erleuchtend in dem Sinne, dass sie die effektivsten Mittel sind, um andere zur Erleuchtung zu führen.

Abfolgen ohne Anfang, die ein Ende haben können

Als Tantras sind die immer währenden Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren eines Individuums so miteinander verflochten, dass sie in jedem Moment ein integriertes Ganzes bilden, wobei sie wie ein Netzwerk zusammenarbeiten. In einem anderen Sinne bilden die immer währenden Kontinuitäten die Kettfäden wie bei einem Webstuhl, um den sich die Abfolgen von Momenten weiterer Begleitmerkmale geistiger Kontinua flechten. Viele ineinander verwobene Merkmale sind auch ohne Anfang, aber nicht alle dauern für immer an. Einige können ein Ende haben und sind damit keine integralen Facetten der Natur des Kontinuums. Die bedeutendsten sind anfanglose Kontinuitäten von Verwirrung darüber, wie die Dinge existieren, der Gewohnheiten solcher Verwirrung und der unkontrollierbaren, wiederholten Probleme und Einschränkungen, die sie hervorbringen. Um die Diskussion zu vereinfachen, benutzen wir hier den Begriff Verwirrung anstelle von Unwissenheit, doch ohne die Bedeutung von Desorganisation, Desorientierung oder Demenz.

Anfanglose Abfolgen von Momenten von unterschiedlichen Ebenen von Verwirrung und ihre Gewohnheiten können ein Ende finden, weil ihr genaues Gegenteil, Abfolgen von Momenten von Verständnis und seinen Gewohnheiten, für immer an ihre Stelle treten und sie beseitigen können. Während geistige Kontinua von Abfolgen von Momenten von Verwirrung und ihren Gewohnheiten begleitet sind, können ihre Buddha-Natur-Faktoren nicht in ihrer ganzen Kapazität zum Einsatz kommen. So lange, wie geistige Kontinua in diesem Zustand sind, sind die durch sie ausgezeichneten Individuen begrenzte Wesen (fühlende Wesen). Die Faktoren funktionieren nur dann auf bestmögliche Weise, wenn alle einschränkenden Merkmale oder „flüchtigen Befleckungen“ beseitigt sind, das heißt, wenn alle Abstufungen von Verwirrung und ihre Gewohnheiten völlig entfernt sind. Wenn die Kontinuitäten aller einschränkenden Merkmale für immer aufhören, sind die Individuen keine begrenzten Wesen mehr. Ihre unendlichen Kontinuitäten als Individuen setzen sich fort, doch die Wesen haben sich nun in Buddhas verwandelt.

Die Nyingma- und Kagyü-Erklärungen von Tantra

Alle vier Traditionen des tibetischen Buddhismus – Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelug – akzeptieren die immer währenden Abfolgen von Momenten miteinander verwobener Buddha-Natur-Faktoren als eine der Bedeutungen von Tantra. Die besonderen Erklärungen jeder Tradition werfen weiteres Licht auf das Thema und ergänzen einander. Schauen wir uns zuerst einmal die allgemeine Präsentation von sowohl Nyingma wie Kagyü an, da sie speziell darauf ausgerichtet ist, Tantra in Hinsicht auf Buddha-Natur im Allgemeinen zu diskutieren. Ihre Präsentationen stammen aus Maitreyas Werk „Weitest gehendes immer währendes Kontinuum“.

Maitreya erklärte, dass Abfolgen von Momenten von Buddha-Natur-Faktoren zwar für immer andauern, dabei jedoch ungeläutert, nur teilweise geläutert oder völlig geläutert sein können. Der Unterschied beruht darauf, ob Abfolgen von Momenten aller Ebenen von Verwirrung und ihrer Gewohnheiten das geistige Kontinuum ohne Unterbrechung begleiten, nur einige von ihnen dies nur manchmal tun oder keine von ihnen es je wieder tun wird. Diese drei Bedingungen der immer währenden Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren sind die Basis-, die Pfad- und die resultierenden Tantras.

Als Basis-Tantras sind die immer verfügbaren Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren das Arbeitsmaterial, um Erleuchtung zu erlangen. Aus dieser Perspektive sind die Faktoren ungeläutert oder „unrein“ in dem Sinne, dass sich Abfolgen von Momenten aller Ebenen von Verwirrung und ihrer Gewohnheiten immer mit den Faktoren verflechten und ihre Funktionstüchtigkeit in unterschiedlichem Maße beeinträchtigen.

Auf dem Pfad zur Erleuchtung arbeiten Praktizierende darauf hin, die Beeinträchtigungen zu beseitigen, indem sie die Kontinuitäten der verschiedenen Abstufungen von Verwirrung und ihrer Gewohnheiten, die sich in ihren Körper, ihre Kommunikation, ihren Geist, ihre guten Eigenschaften und ihre Handlungen einmischen, schrittweise zum Stillstand bringen. Infolgedessen sind die Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren als Pfad-Tantras während des Reinigungsprozesses teilweise geläutert und teilweise ungeläutert. Manchmal sind die Faktoren von Zeiten vollen Verständnisses begleitet, ein anderes Mal folgen Zeiten mit lediglich einer Bewegung in Richtung Verständnis. Gelegentlich hören Abfolgen von Momenten von Verwirrung vorübergehend auf. Danach setzt ein gewisses Maß an Kontinuitäten wieder ein, doch allmählich kehrt keine von ihnen je wieder zurück. Auf ähnliche Weise hören die Gewohnheiten der Verwirrung gelegentlich auf, Momente von Verwirrung entstehen zu lassen, doch irgendwann erlöschen die Kontinuitäten der Gewohnheiten für immer.

Auf der resultierenden Ebene der Buddhaschaft sind die Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren als resultierende Tantras vollständig geläutert, in dem Sinne, dass sie für immer völlig frei von sie begleitenden Zeiten jeglicher Abstufung von Verwirrung oder ihren Gewohnheiten sind. Daher sind die Buddha-Natur-Faktoren , als die ineinander verwobenen erleuchtenden Facetten eines Buddha, immer während in höchstem Maße funktionstüchtig, zum Beispiel als physische, kommunikative und geistige erleuchtende Fähigkeiten, gute Eigenschaften und Aktivitäten eines Buddha.

Die Rolle von Buddha-Gestalten im Tantra

Buddha-Gestalten symbolisieren die Buddha-Natur-Faktoren in geläuterten oder „reinen“ Phasen, in denen Abfolgen von Momenten vollen Verständnisses ihre Kontinuitäten begleiten. Da Buddha-Gestalten mit Körper, Kommunikation, Geist, guten Eigenschaften und Handlung ausgestattet sind, die wie ein integriertes Netzwerk zusammenarbeiten, sind sie dazu geeignet, diese Buddha-Natur-Faktoren zu symbolisieren. Zudem haben die Gestalten oft mehrere Gesichter, Arme und Beine. Das Aufgebot von Gesichtern und Gliedmaßen symbolisiert Themen aus dem Sutra, von denen viele auch unter den Buddha-Natur-Faktoren zu finden sind. Tantra-Praktizierende benutzen die Gestalten in der Meditation, um den Reinigungsprozess voranzutreiben.

Der Sanskrit-Begriff für Buddha-Gestalten, ishtadevata, bedeutet gewählte Gottheiten, das heißt Gottheiten, die man als Praxis wählt, um ein Buddha zu werden. Sie sind „Gottheiten“ in dem Sinne, dass ihre Fähigkeiten die gewöhnlicher Wesen überschreiten, doch sie üben keine Kontrolle über das Leben von Wesen aus, noch ist es nötig, dass man sie anbetet. Daher übersetzten tibetische Gelehrte den Begriff als lhagpe lha (tib. lhag-pa'i lha), besondere Gottheiten, um sie von weltlichen Gottheiten oder von Gott, dem Schöpfer, zu unterscheiden.

Das häufiger benutzte tibetische Äquivalent, yidam (tib. yi-dam), bezeichnet die beabsichtigte Bedeutung noch klarer. Yi bedeutet Geist, und dam steht für damtsig (tib. dam-tshig, Skt. samaya), eine enge Bindung. Tantra-Praktizierende gehen eine Bindung mit männlichen und weiblichen Buddha-Gestalten wie Avalokiteshvara und Tara ein, indem sie sich vorstellen, dass sie selbst die erleuchtenden Facetten der physischen Erscheinung, der Kommunikation, geistigen Funktionstüchtigkeit, guten Eigenschaften und Aktivitäten dieser Gestalten besitzen. Genauer gesagt verbinden oder verflechten Praktizierende die Kontinuitäten ihrer Buddha-Natur-Faktoren, die als Pfad-Tantras teilweise noch ungeläutert sind, mit den Kontinuitäten der Faktoren, die sie sich in ihrer Imagination als die völlig geläuterten Facetten von Buddhafiguren vorstellen. Selbst wenn Praktizierende nur ein unvollständiges Verständnis von der Existenz der Dinge erlangt haben, ist die Vorstellung, dass ihre teilweise ungeläuterten Buddha-Natur-Faktoren als völlig geläuterte Buddha-Gestalt-Facetten operieren, die allgemeine Tantra-Methode, um die flüchtigen Befleckungen der Zeiten der Verwirrung und ihre Gewohnheiten von den immer währenden Kontinuitäten der Buddha-Natur-Faktoren zu beseitigen.

Kurz gesagt, die Buddha-Natur-Faktoren bleiben dieselben Faktoren, ganz gleich, ob sie als Basis-, Pfad- oder resultierende Tantras fungieren. Das geistige Kontinuum manifestiert immer eine gewisse Form von physischer Erscheinung, Kommunikation von etwas und geistiger Funktion, als auch ein gewisses Maß an guten Eigenschaften und Aktivität. Der einzige Unterschied ist das Ausmaß, in dem Abfolgen von Momenten von unterschiedlichen Ebenen von Verwirrung und ihren Gewohnheiten die Kontinuitäten der Faktoren begleiten und ihre Funktion einschränken.

Gemäß der Nyingma- und Kagyü-Darstellungen ist das Thema des Tantra also die Verflechtung von Basis-, Pfad- und resultierenden Bedingungen immer währender Kontinuitäten von Buddha-Natur-Faktoren, um eine Methode zum Erlangen der Erleuchtung zu weben. Noch spezifischer hat Tantra mit Methoden zu tun, um mit Perioden von Buddha-Natur-Faktoren als Pfad-Tantras zu arbeiten und Abfolgen der Faktoren als Basis-Tantras zu reinigen, so dass sie letztlich als immer währende Kontinuitäten resultierender Tantras fungieren. Tantra-Praxis bewirkt diese Transformation, indem sie Kontinuitäten ungeläuterter Buddha-Natur-Faktoren an Abfolgen von Momenten ihrer geläuterten Situation bindet, die durch die erleuchtenden Facetten von Buddha-Gestalten symbolisiert werden.

Die Sakya-Darstellung

Die Sakya-Darstellung der Bedeutung von Tantra entstammt dem „Hevajra-Tantra“, einem Text aus der höchsten Tantra-Klasse. Diese Darstellung erläutert die Beziehung zwischen Buddha-Gestalten und alltäglichen Wesen, die ermöglicht, dass übereinstimmende Facetten der beiden in Tantra-Praxis eine Bindung eingehen.

Ein Thema, das ausschließlich im höchsten Tantra behandelt wird, ist das Kontinuum des klaren Lichts (der Geist klaren Lichts), die subtilste Ebene des geistigen Kontinuums eines jeden. Alle geistigen Kontinua besitzen gewisse Abstufungen von klarem Licht, um Dinge zu erleben, das ihnen – in Form der letztendlichen Buddha-Natur – die tiefste, immer währende Kontinuität gewährt. Gröbere Stufen der Erfahrung, wie jene, auf denen Sinneswahrnehmungen und konzeptuelle Gedanken auftreten, setzen sich nicht ununterbrochen von einem Leben zum nächsten fort. Überdies hören sie mit der Erleuchtung für immer auf. Nur Abfolgen von Ebenen von klarem Licht setzen sich ohne Unterbrechung fort, selbst nachdem man ein Buddha geworden ist. Wollte man individuelle Wesen mit Radios vergleichen, würden die gröberen Ebenen ihrer geistigen Kontinua dem Abspielen verschiedener Sender gleichen, während ihre Ebenen des klaren Lichts der Tatsache gliche, dass das Radio angestellt ist. Der Vergleich ist jedoch nicht exakt. Radios können aufhören zu spielen, geistige Kontinua hingegen halten nie inne in ihrem Fluss.

Unabhängig davon, auf welcher Ebene es passiert, beinhaltet das bloße, individuelle, subjektive Erleben von Dingen, dass Erscheinungen von Dingen hervorgebracht werden (Klarheit) und man sich geistig damit befasst (Gewahrsein). Mit anderen Worten, man nimmt nicht direkt äußere Objekte wahr, sondern lediglich ihre Erscheinungen oder „geistige Hologramme“, die als Teil der Handlung des Wahrnehmens entstehen. „Erscheinungen“ schließt in diesem Fall nicht nur den Anblick von Dingen ein, sondern auch mit ihnen verbundene Klänge, Gerüche, Geschmacksaromen und körperliche Empfindungen sowie die Gedanken über sie. Die westliche Wissenschaft beschreibt denselben Punkt aus einer biophysikalischen Perspektive. Nimmt man Dinge wahr, erkennt man nicht wirklich äußere Objekte, sondern nur Gefüge von elektrochemischen Impulsen, die das Objekt im Nervensystem und Gehirn repräsentieren. Obgleich alle Ebenen des Erlebens von Dingen das Entstehen ihrer Erscheinungen beinhalten, ist das Kontinuum des klaren Lichts die eigentliche Quelle, die alle Erscheinungen entstehen lässt.

Sich geistig mit Erscheinungen zu befassen bedeutet, sie zu sehen, hören, riechen, schmecken, körperlich zu fühlen oder sie zu denken oder ihnen ein emotionales Gefühl entgegenzubringen. Das geistige Sichbefassen kann unterschwellig oder sogar unbewusst sein. Darüber hinaus sind das Erscheinenlassen von Dingen und sich geistig mit ihnen zu befassen zwei Beschreibungsweisen desselben Phänomens. In Wirklichkeit sind das Erscheinen eines Gedanken und das Denken eines Gedankens dasselbe geistige Ereignis. Es ist nicht so, dass ein Gedanke erscheint und man ihn dann denkt: Die beiden geistigen Handlungen treten gleichzeitig auf, weil sie dasselbe Ereignis beschreiben.

Die Sakya-Diskussion des Tantra konzentriert sich auf einen spezifischen Buddha-Natur-Faktor, nämlich die immer währende Abfolge von Momenten der innewohnenden Aktivität des Kontinuums des klaren Lichts, Dinge aus sich selbst erscheinen zu lassen. Das Erscheinenlassen geschieht automatisch, unbeabsichtigt und unbewusst. Es kann sein, dass wir absichtlich etwas anschauen, doch wenn wir es sehen, konstruiert unser eigenes Kontinuum des klaren Lichts nicht absichtlich eine Erscheinung davon. Darüber hinaus kann es sich bei den Erscheinungen, die aus dem Kontinuum des klaren Lichts erscheinen, um den physischen Körper des Kontinuums – unseren eigenen Körper – oder jegliches andere Objekt handeln, das es wahrnimmt.

Das Wichtigste hier ist, dass das Erscheinenlassen untrennbar auf zwei Ebenen auftritt: einer groben und einer subtilen. Untrennbar (tib. dbyer-med) bedeutet, dass in dem Moment, in dem eine Ebene gültig auftritt, die andere Ebene auch gültig erscheint. In diesem Kontext handelt es sich bei den groben Erscheinungen um alltägliche Wesen und ihre Umwelt, bei subtilen Erscheinungen um Buddha-Gestalten und das, was sie umgibt.

Alltägliche Wesen und Buddha-Gestalten sind wie Quanten-Ebenen der Kontinua des klaren Lichts. Subatomare Teilchen haben verschiedene Ebenen von Quanten-Energie, auf denen sie gleichermaßen gültig mitschwingen. Zu jedem Zeitpunkt ist die Ebene, auf der ein Teilchen mitschwingt, nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit: Man kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ein Teilchen nur auf einer Ebene mitschwingt und nicht auf der anderen. Tatsächlich kann ein Teilchen gemäß der Quantenmechanik auf mehreren Ebenen gleichzeitig mitschwingen. Auf ähnliche Weise kann man, da es in jedem Moment nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit ist, auf welcher Ebene ein Kontinuum des klaren Lichts erscheint, nicht sagen, dass ein einzelnes Wesen zu einem bestimmten Moment nur eine Art von Erscheinung hat und nicht eine andere.

Die immer währende Kontinuität geistiger Aktivität, die dieses immanent aneinander gebundene Erscheinungspaar produziert, mag ungeläutert, teilweise geläutert oder völlig geläutert sein, abhängig von den Abfolgen von Momenten von Verwirrung und den Gewohnheiten, die sie begleiten. Der Prozess, durch den eine Kontinuität von Praxis mit Buddha-Gestalten diesen Faktor der Buddha-Natur reinigt, so dass sie eine immer währende Abfolge von Erscheinungen produziert, die völlig frei ist von sie begleitenden Zeiten der Verwirrung und ihren Gewohnheiten, ist das vorrangige Thema des Tantra, wie es in der Sakya-Schule diskutiert wird.

Die Gelug-Erklärung

Die Gelug-Tradition folgt dem Text „Anhang zum Guhyasamaja-Tantra“ in ihrer Erklärung der Bedeutung von Tantra als einer immer währenden Kontinuität. Der wichtigste Aspekt der Buddha-Natur, der hier betont wird, ist die Leere (Leerheit) des geistigen Kontinuums – die Abwesenheit seiner Existenz auf unmögliche Weise. Geistige Kontinua existieren nicht als inhärent fehlerhaft und von Natur aus unrein. Das war nie so und wird nie so sein. Sie werden von keinen immer währenden Kontinuitäten innewohnender Merkmale begleitet, die sie aus eigener Kraft auf diese unmögliche Weise existieren ließen. Weil diese völlige Abwesenheit immer der Fall ist, können Praktizierende, wenn sie diese Tatsache vollständig verstehen, veranlassen, dass ihre geistigen Kontinua nicht mehr von Kontinuitäten von Verwirrung und deren Gewohnheiten begleitet werden, so dass ihre Buddha-Natur-Faktoren vollständig als erleuchtende Facetten eines Buddha funktionieren können. Da geistige Kontinua sich für immer als immer währende Kontinuitäten fortsetzen, bleibt ihre Leerheit immer eine Tatsache, die Reinigung und Verwandlung ermöglicht.

Die Reinigungsmethode bezieht sich auf die Stufen der Praxis mit Buddha-Gestalten. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen wachsen Buddha-Gestalten nicht aus Föten heran, altern und sterben nicht. Da sie immer in derselben Form zur Verfügung stehen, kann Meditation mit ihnen eine immer währende Kontinuität bilden. Das Resultat des Reinigungsprozesses ist die immer währende Kontinuität der Buddhaschaft.

Kurz gesagt, durch eine immer währende Kontinuität von Meditationspraxis der Bindung an Buddhafiguren können Tantra-Praktizierende die immer währende Kontinuität der Buddhaschaft erlangen, auf der Basis der immer währenden Tatsache der Leerheit ihrer geistigen Kontinua. Da Tantra-Praxis beinhaltet, dass man sich selbst als Buddha-Gestalten erscheinen lässt, die dem resultierenden Zustand der Erleuchtung ähneln, nennt man Tantra das Ergebnisfahrzeug.

Zusammenfassung

Das Thema des Tantra dreht sich um immer währende Kontinuitäten, die mit dem geistigen Kontinuum verbunden sind. Die Kontinuitäten beinhalten Buddha-Natur-Faktoren wie 1) grundlegende gute Eigenschaften, 2) eine Ebene des klaren Lichts, das die Dinge erlebt, 3) ihre Aktivität des Hervorbringens von Selbsterscheinungen und 4) ihre Leerheit. Die Kontinuitäten beinhalten auch Buddha-Gestalten und den erleuchteten Zustand. Die vier Traditionen des tibetischen Buddhismus erklären auf unterschiedliche Weise, wie Abfolgen von Momenten dieser immer währenden Kontinuitäten sich als Basis, Pfad und Resultat miteinander verflechten. Sie vertreten alle, dass Tantra einen Pfad der Praxis mit Buddha-Gestalten beinhaltet, um eine Basis zu reinigen und als Resultat Erleuchtung zu erlangen. Sie stimmen auch überein, dass die physischen Merkmale der Buddha-Gestalten als multivalente Symbole dienen und den Struktur gebenden Faden liefern, um die verschiedenen Themen der Sutra-Praxis miteinander zu verweben. Der Begriff Tantra bezieht sich auf dieses komplex miteinander verwobene Themengeflecht und die Texte, die es diskutieren.

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