10 Anwendung der fünf Arten Tiefen Gewahrseins

Grundlegende Beschreibung der fünf Arten des Gewahrseins

Ein weiteres Merkmal des subtilsten Geistes des Klaren Lichts ist, dass er als Teil unseres innewohnenden Netzwerks Tiefen Gewahrseins ganz natürlich die sogenannten fünf Arten Tiefen Gewahrseins aufweist. Die Thematik dieser fünf Arten Tiefen Gewahrseins wird hauptsächlich in der höchsten Tantraklasse, dem annutarayoga, näher erklärt. Die Nyingma- und die Kagyütradition setzen sie in Beziehung zur Buddha-Natur und beschreiben sie am ausführlichsten. Als unverzichtbare Bestandteile ausgeglichener Sensibilität umfassen die fünf Arten Tiefen Gewahrseins all das, was wir bisher unter dem Oberbegriff „Verstehen“ zusammengefasst haben. Die fünf Arten Tiefen Gewahrseins sind:

  1. Spiegelgleiches Ge­wahr­sein, 
  2. Gewahrsein der Gleichheit,
  3. Gewahrsein der Einzigartigkeit,
  4. Vollendendes Gewahrsein,
  5. Gewahrsein der Wirk­lichkeit (dhar­madhatu).

Wie beim Geist selbst handelt es sich bei den fünf Arten Tiefen Gewahrseins um auf ein Objekt gerichtete geistige Aktivitäten. Genauer gesagt ist jede der fünf eine bestimmte Art der Beschäftigung mit einem Objekt. Ausführlicher beschrieben handelt es sich also um

  1. die genaue Wahrnehmung aller Einzelheiten eines Objektes nach Art eines Spiegels, 
  2. die Wahrnehmung der Aspekte des Objekts, in denen es anderen gleicht, 
  3. die Wahrnehmung des Objektes als individuell und einzigartig, 
  4. die Wahrnehmung, wie ein bestimmter Zweck im Zusammenhang mit dem Objekt zu vollenden ist, 
  5. die Wahrnehmung der Wirklichkeit des Objektes.

Wie andere Talente unseres Klaren-Licht-Geistes haben auch die fünf Arten Tiefen Gewahrseins drei Ebenen: Grundlage, Pfad und Ergebnis. Für die Entwicklung ausgeglichener Sensibilität müssen wir in unserer Erfahrung zuerst die Basisebene der fünf Arten Tiefen Gewahrseins erkennen, dann in der Übung ihre Pfadebenen durch­laufen, um schließlich eine Annäherung an ihren Ergebniszustand zu erreichen.

Spiegelgleiches Gewahrsein

Jeder Mensch besitzt die Basisebene Spiegelgleichen Gewahrseins. Das zeigt sich daran, dass das Sinnes- oder Geistbewusstsein sämtliche Einzelheiten des Objekts aufnimmt, auf das es gerichtet ist. Das Wort „Spiegel“ in diesem Fachbegriff bedeutet nicht, dass diese Art des Gewahrseins auf den visuellen Bereich begrenzt ist. Spiegelgleiches Gewahrsein funktioniert ebenso im Zusammenhang mit unserem Hör-, Riech-, Schmeck- und Tastsinn sowie mit unserem „geistigen Sinn“, dem Empfinden von Emotionen.

Auch bedeutet der Begriff „spiegelgleich“ nicht, dass unser Sinnes- bzw. Geistbewusstsein Informationen reflektiert. Es nimmt einfach nur Information auf, ähnlich einer Videokamera oder einem Mikrofon. Wann immer wir uns also auf etwas Spezielles im Bereich unserer Sinne oder unseres Geistes konzentrieren, nehmen wir sämtliche Details auf. Wenn wir zum Beispiel das Gesicht eines Menschen betrachten, sehen wir auch Augen und Nase. Darüber hinaus bedarf diese geistige Aktivität keiner Verbalisierung. Wir sehen alle Merkmale, ohne dabei laut oder leise „ Augen“ oder „Nase“ sagen zu müs­sen.

Obwohl wir alle Informationen im Bereich unserer Sinne oder unseres Geistes aufnehmen, bringt unser Spiegelgleiches Gewahr­sein derzeit noch nicht die Wirkung hervor, die eigentlich möglich wäre. Das ist deshalb der Fall, weil auch die dieses Gewahrsein unterstützenden Geistesfaktoren wie Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit derzeit noch nicht optimal arbeiten. Das wiederum liegt an geringem Interesse oder schwacher Konzentration. Unsere Auf­merk­samkeit könnte zum Beispiel durch selbstsüchtige Gedanken oder Emotionen geteilt sein. Darüber hinaus mögen unser Interesse und unsere Fürsorge bloß auf Neugier basieren oder rein theoretischer Natur sein. Solche Defizite führen häufig dazu, dass wir unempfänglich sind für das, was wir sehen, hören oder empfinden. Wir reagieren weder darauf, noch erinnern wir uns überhaupt, was wir eigentlich wahrgenommen haben.

Um uns selbst und anderen besser von Nutzen sein zu können, müssen wir alle Informationen, die unsere Sinne und unser Geist ganz von selbst mit Hilfe des Spiegelgleichen Gewahrseins aufnehmen, auch bemerken, und zwar mit liebevollem Interesse und Fürsorglichkeit. Bemerken bedeutet, sich der Präsenz eines bestimmten Merkmals oder Details von etwas bewusst zu sein. Es handelt sich um einen Geistesfaktor, der das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken bzw. das körperliche oder geistige Empfinden des Merkmals oder Details begleitet.

Menschen zu sehen und dabei die Präsenz verschiedens­ter As­pekte zu bemerken ist ein wesentlicher Bestandteil ausgeglichener Sensibilität und führt zu vertieftem Verständnis. So können wir zum Beispiel eine Menge über Menschen entdecken, indem wir ihren Gesichtsausdruck betrachten, die Falten in ihrem Gesicht, die Art und Weise wie sie sich körperlich halten, wie ruhig oder nervös sie sind und ob sie uns während eines Gesprächs anschauen oder nicht. Des weiteren können wir viel über sie in Erfahrung bringen, indem wir bemerken, wie gesund oder ungesund sie aussehen, wie sauber oder schmutzig sie sind, was sie anhaben, wie sie sich frisieren und wie viel Schmuck sie tragen. Wann immer wir Menschen ansehen, nehmen wir all diese Details auf. Wir müssen nur aufpassen und sie auch bemerken.

Auch wenn wir Menschen sprechen hören, können wir eine Menge über sie erfahren, nicht nur durch die Worte, die sie sagen, sondern ebenso, indem wir den emotionalen Ton ihrer Stimme sowie die Geschwindigkeit und Klarheit ihres Ausdrucks bemerken. Auch Grammatik, Stil und Dialekt vermitteln Information. Darüber hinaus können wir unendlich viel über uns selbst lernen, indem wir versuchen, uns die komplexen Empfindungen und Gefühle bewusst zu machen, die unsere Stimmungen und Launen bilden.

Auf der Pfadebene müssen wir unser Spiegelgleiches Gewahr­sein üben, damit wir den größten Nutzen aus ihm ziehen können. Wir tun dies, indem wir den Bereich dieses Gewahrseins ausdehnen und unser Interesse und unsere Konzentration stärken. Als Folge dieses Trainings ziehen wir immer mehr Informationen aus allem, was wir sehen, hören oder fühlen. Auf der Ergebnisebene nimmt ein Buddha – mit all-gütiger Fürsorge – jedes einzelne Detail an Information wahr, das sein oder ihr Spiegelgleiches Gewahrsein ganz natürlich aufnimmt. Das ist das Ideal, nach dem wir streben.

Gewahrsein der Gleichheit

Wenn wir etwas wahrnehmen, nehmen wir nicht nur Information auf, sondern organisieren diese Information ganz natürlich in bestimmte Muster, damit wir sie bearbeiten, verstehen und auf sie eingehen können. Das Organisieren von Information in bestimmten Mustern ist die Funktion des Gewahrseins der Gleichheit, manchmal auch „Ausgleichendes Gewahrsein“ genannt. Wir verfügen alle be­reits jetzt über dieses Gewahrsein in seiner Grundform. Wenn wir zum Beispiel Menschen betrachten, nimmt unser Spiegelgleiches Gewahrsein ihre Körperform auf. Sobald wir dieses körperliche Merkmal bemerkt haben, vergleichen wir es mit unserem Vorwissen und verstehen, dass diese Form anderen ähnelt, die wir irgendwann gesehen haben. Folglich wissen wir, wenn wir Leute sehen, dass sie in eine der allgemeinen Kategorien „dünn“ oder „dick“ fallen. Und wie­der gilt: Um das zu verstehen, brauchen wir diese Tatsache nicht zu verbalisieren.

Ob wir uns auf einen oder mehrere Menschen gleichzeitig konzentrieren, ob wir sie betrachten, ihnen zuhören oder an sie denken, das Gewahrsein der Gleichheit funktioniert stets auf ähnliche Weise. Sind aber mehrere Personen betroffen, sind wir uns bewusst, dass sie sich darin gleichen, einige Merkmale gemeinsam zu haben. Wir dürften uns auch bewusst sein, dass sie und wir in gewisser Weise gleich sind. Darüber hinaus kann das Gewahrsein der Gleichheit offensichtliche körperliche Merkmale, etwa das Körpergewicht, oder weniger offensichtliche, etwa das Einhalten einer bestimmten Diät, betreffen.

Das Gewahrsein der Gleichheit kommt nicht voll zur Entfaltung, solange sein Bereich begrenzt ist. Dieser Bereich variiert, je nachdem wie viele Details wir bemerken und wie viele Tatsachen uns von etwas oder jemandem bewusst sind. Weiter hängt der Bereich des Gewahrseins der Gleichheit von der Bandbreite an Personen oder Objekten ab, von denen wir glauben, das sie gemeinsame Merkmale aufweisen. Nehmen wir einmal an, wir stünden hinter mehreren Menschen in einer Schlange vor dem Postschalter. Wenn wir die Leute betrachten, ist uns klar, dass jeder wartet, bis er oder sie an der Reihe ist, genau wie wir. Ist uns jedoch nicht bewusst, dass jeder der Wartenden höchstwahrscheinlich noch andere Ding zu tun hat, könnten wir glauben, wir seien die Einzigen, die es eilig haben. Also werden wir ungeduldig und verärgert. Das Gewahrsein der Gleichheit gestattet uns zu erkennen, was wir mit anderen gemein haben, so dass wir uns vernünftiger verhalten.

Andere, Personen betreffende Tatsachen sind grundlegender als etwa ihr In-Eile-Sein und sie gelten für alle. Gewöhnlich erkennen wir nicht, dass alle das gleiche Recht besitzen, glücklich zu sein und nicht leiden zu wollen. Auch anerkennen die meisten von uns nicht die Gleichheit aller in ihrem Recht glücklich zu sein und nicht zu leiden. Als Folge dieser Sichtweise begegnen wir nicht allen Menschen mit der gleichen Fürsorge, Aufmerksamkeit, Liebe oder Hochachtung. Ein Buddha betrachtet alle als gleich, weil alle die gleichen Wünsche und Rechte haben, über das gleiche Wachs­tumspotenzial verfügen und auf die gleiche Art und Weise existieren. Wenn wir vollkommen ausgeglichene Sensibilität entwickeln wollen, brauchen wir das Gewahrsein, dass alle Wesen, wir selbst eingeschlossen, auf diese tiefgründige und umfassende Weise gleich sind.

Außerdem müssen wir unser Gewahrsein der Gleichheit einsetzen, um Muster zerstörerischen Verhaltens in uns selbst und anderen aufzudecken. Solange es uns nicht gelingt, die Muster der störenden Einstellungen zu erkennen, und uns ständig wieder in emotionalen Aufruhr versetzen, können wir nicht anfangen, vernünftig zu reagieren und angemessene Schritte in Richtung mehr Ausgeglichenheit zu unternehmen.

Gewahrsein der Einzigartigkeit

Wenn wir Menschen oder Objekte wahrnehmen, sind wir uns nicht nur ganz natürlich bewusst, auf welche Weise sie anderen gleichen, wir nehmen auch ihre Einzigartigkeit wahr. Wir können zum Beispiel jeden einzelnen in einer Klasse ungezogener Jugendlicher für einen Rüpel halten. Gleichzeitig aber können wir auch jede Person der Gruppe als Individuum sehen: Hans, Maria oder Fred. Wir müssen nicht verbalisieren, ja wir müssen nicht einmal die Namen kennen, um sie als Individuen wahrzunehmen.

Gewahrsein der Einzigartigkeit oder Individualisierendes Gewahrsein ist ebenfalls unverzichtbar für ausgeglichene Sensibilität. In einer überfüllten U-Bahn zum Beispiel verlieren wir dieses Gewahrsein schnell aus den Augen und werden empfindungslos gegenüber anderen. Aber Menschen existieren nicht einfach als bloße Gesichter in der Masse oder als ein weiteres Mitglied einer ethnischen Minderheit, die wir zu fürchten hätten. Jeder Mensch in der U-Bahn ist ein Individuum. Jeder hat seine Familie, sein Privatleben, seinen Beruf und seine persönliche Geschichte. Betrachten wir sie alle mit diesem Verständnis, können wir jeden als Individuum respektieren. Das wiederum erlaubt uns ein ausgewogeneres und sensible­res Eingehen auf jeden. Wären wir ein Buddha, würden wir alle Men­schen auf diese Weise wahrnehmen – immer und überall.

Wenn wir die allgemeinen Muster in unserem eigenen neurotischen Verhalten und dem anderer erkennen, müssen wir ebenso die Individualität jeder Manifestation wahrnehmen. Andernfalls könnten wir mit einer Pauschal-Erwiderung reagieren, die in der gegebenen Situation völlig unangemessen ist. Obwohl zwei Situationen die gleichen Muster aufweisen mögen, sind sie doch niemals identisch. Unterschiedliche Situationen erfordern unterschiedliche Reaktionen.

Vollendendes Gewahrsein

Die vierte Art des Gewahrseins sagt uns, was zu tun ist, um etwas zu vollenden, und auch wie es getan werden muss. Wir alle verfügen über eine Basisebene dieses Gewahrseins. Wenn wir zum Beispiel hungrig sind und Speisen auf unserem Teller sehen, wissen wir automatisch, was zu tun ist und wie wir es angehen müssen. Wir müssen dieses Wissen nicht verbalisieren, um unser Ziel zu erreichen.

Aufgrund dieses Gewahrseins können wir auch mit unterschiedlichen Menschen und Situationen umgehen. Kümmern wir uns zum Beispiel um ein Baby, wissen wir, wie wir uns verhalten und sprechen müssen. Auch in der Gegenwart von Erwachsenen können wir uns angemessen verhalten. Dass wir uns in Gegenwart von Babys und Erwachsenen nicht gleich verhalten, zeigt unsere natürliche Flexibilität. Wir reagieren unterschiedlich, je nachdem was jeweils angemessen ist.

Aber auch das Vollendende Gewahrsein kommt momentan nicht voll zur Entfaltung. Manchmal behandeln wir unser bereits erwachsenes Kind, als sei es immer noch zehn Jahre alt. Zu anderen Zeiten haben wir nicht die geringste Ahnung, wie wir mit jemandem Verbindung aufnehmen sollen. Wären wir ein Buddha, würden wir in unseren Beziehungen allen vollkommen gerecht.

Vollendendes Gewahrsein wird umso wichtiger, je mehr wir den Bereich der drei vorhergehenden Arten des Gewahrseins erweitern. Wenn wir zum Beispiel einen Freund treffen und mit Spiegelgleichem Gewahrsein bemerken, dass er besorgt aussieht, würden wir mit dem Gewahrsein der Gleichheit das Muster emotionalen Aufruhrs erkennen. Mit dem Gewahrsein der Individualität würden wir diese Begegnung in ihrer Einzigartigkeit erkennen und ernst nehmen. Wir würden die Sache nicht als bloß eine weitere Szene sehen. Auf dieser Grundlage und voller liebevoller Fürsorge würden wir mit Vollendendem Gewahrsein angemessen reagieren, indem wir zum Beispiel den Menschen trösten und beruhigen.

Gewahrsein der Wirklichkeit

Die Wirklichkeit eines jeden Phänomens wird durch zwei Tatsachen oder Naturen bestimmt, die man gewöhnlich die „zwei Wahrheiten“ nennt. Die konventionelle Tatsache oder Wahrheit bezieht sich darauf, was ein Phänomen ist, und die absolute Tatsache oder Wahrheit darauf, wie es letztlich existiert. Auf der Basisebene ist das Gewahrsein der Wirklichkeit von etwas oder jemandem das Bewusstsein, was oder wer er, sie oder es ist. Wenn wir zum Beispiel unseren kleinen Sohn zerstörerisch handeln sehen, liefern uns das Spiegelgleiche Gewahrsein und das Gewahrsein der Gleichheit Information und Muster. Das lässt uns durch das fünfte Gewahr­sein erkennen, dass er ein Knabe ist, dass er ein Kind ist und dass er ungezogen ist. Abhängig davon, wie viel Information wir aufnehmen, können wir auch noch den Aspekt seiner Realität wahrnehmen, nämlich dass er übermüdet ist. Trotz seines ungezogenen Benehmens wünscht er sich, geliebt und nicht ausgeschimpft zu werden. Unser Gewahrsein seiner Individualität und die Einsicht, wie wir etwas Sinnvolles erreichen können, erlaubt uns ein angemessenes Verhalten, nämlich unseren Sohn ins Bett bringen. Um jedoch von dauerhaftem Nutzen sein zu können, müssen wir uns auch der tiefsten Ebene seiner Wirklichkeit bewusst werden.

Je mehr wir über die Wirklichkeit lernen, desto besser begreifen wir, dass unser Sohn nicht die feste Identität besitzt, ein ungezogenes Kind zu sein. Schon morgen könnte er ganz anders handeln, und schließlich wird er auch nicht ewig ein Kind bleiben und Beaufsichtigung brauchen. Ein derartiges Gewahrsein macht uns flexibler unserem Sohn gegenüber, erlaubt einen kreativeren Um­gang, während er aufwächst, ohne die Beschränkungen vor­ge­fasster Meinungen oder nicht mehr zeitgemäßer Reaktionsweisen. Wenn wir nach ausgeglichener Sensibilität streben, müssen wir den Bereich unseres Gewahrseins der Wirklichkeit erweitern. Wären wir ein Buddha, wären wir uns – gleichzeitig und dauernd – auf sämtlichen Ebenen jeder Einzelheit bezüglich des Jungen bewusst.

Die fünf Arten Tiefen Gewahrseins als integriertes Netzwerk

Das Annutarayoga-Tantra erklärt, dass die fünf Arten vollständig funktionalen Tiefen Gewahrseins ein Netzwerk bilden, das jeden Au­genblick der Wahrnehmung eines Buddhas ausmacht. Das lässt vermuten, dass ausgeglichene Sensibilität ebenfalls ein harmonisches Zusammenwirken der fünf Arten Tiefen Gewahrseins in Form eines integrierten Netzwerks voraussetzt. Ein Netzwerk ist ein nicht-lineares System: Alle Bestandteile funktionieren gleichzeitig, sind mit allen anderen verbunden und unterstützen sich gegenseitig. Die genaue Funktionsweise eines derartig komplexen Systems ist nur schwer vorstellbar. Um aber dennoch ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie notwendig all seine Teile sind und wie sie sich gegenseitig ergänzen, wollen wir dieses Netzwerk der Einfachheit halber als lineares Modell darstellen. Wenn wir dann üben, die uns innewohnenden fünf Arten Tiefen Gewahrseins zu verstärken, werden wir ebenfalls zuerst nur mit jeweils einer von ihnen arbeiten und erst dann versuchen, sie alle zu einem Netzwerk zu verschmelzen.

Stellen wir uns zum Beispiel einmal vor, wir würden daran arbeiten, eine Depression zu überwinden. Wenn wir deprimiert sind, müssen wir – gleich einem Spiegel für Emotionen – alle Details unserer Empfindung mit Spiegelgleichem Gewahrsein erfassen. Indem wir das Gewahrsein der Gleichheit anwenden, würden wir die so gewonnenen Informationen mit früheren Erfahrungen vergleichen, um das Muster ausfindig zu machen. Mit dem Gewahr­sein der Wirklichkeit würden wir das Muster identifizieren und wissen, das wir wegen irgendetwas aufgebracht sind.

Mit dem Gewahrsein der Einzigartigkeit würden wir die Erfahrung nicht abwerten, indem wir sie als einen weiteren Anfall von Depression und Aufregung betrachten, sondern ihre Einzigartigkeit respektieren. Zur Identifizierung der einzigartigen Merkmale bräuchten wir dann wieder das Gewahrsein der Wirklichkeit. Dies alles würde es uns ermöglichen, angemessen zu reagieren. Mit Vollendendem Gewahrsein würden wir unsere Stimmung als etwas betrachten, mit dem wir umgehen und ins Reine kommen wollen. Unsere Energie würde sich der Angelegenheit entsprechend verstärken und noch einmal würden wir mit dem Gewahrsein der Wirklichkeit herausfinden, was genau zu tun ist. Im Gewahrsein der tiefsten Wirklichkeit schließlich würde uns bewusst, dass wir zwar momentan deprimiert sind, dies jedoch nicht unsere inhärente, dauerhafte Identität ist. Mit diesem Verständnis würden wir – ohne zu urteilen – einfach versuchen, unsere Stimmung zu verändern.

Übung 10: Die fünf Arten Tiefen Gewahrseins

Weil es sehr schwierig ist, Spiegelgleiches Gewahrsein auf die Ge­dan­ken an eine real anwesende Person zu richten, praktizieren wir die erste Übungsphase, indem wir nur Fotos betrachten. Zuerst betrachten wir ein Familienfoto oder das Bild einer Gruppe von Freunden. Wie in den vorherigen Übungen versuchen wir, unseren Geist zu beruhigen und von Geschichten, vorgefassten Meinungen und nonverbalen Urteilen zu befreien. In einem subtileren, stilleren Zustand empfinden wir vielleicht ganz von selbst ein gewisses Maß an warmherziger Zuneigung. Dieses Gefühl müssen wir verstärken, da es den Kontext für die Anwendung der fünf Arten Tiefen Gewahrseins darstellt. Am besten wiederholen wir den zweiten Teil von Übung Zwei – in abgekürzter Form – und versuchen liebevolle Zuneigung durch folgende Überlegungen zu erzeugen:

  • „Jeder von euch ist ein Mensch und hat Gefühle, genau wie ich.“
  • „Eure Stimmung beeinflusst unser Zusammensein genauso wie meine.“
  • „Wie ich euch behandle und was ich zu euch sage, beeinflusst eure Stimmung weiter, genau wie das, was ihr zu mir sagt und wie ihr mich behandelt, meine Stimmung weiter beeinflusst.“
  • „Daher hoffe ich, dass ich und meine Gefühle in unserem Zusammensein euch wichtig sind, genauso wie ihr und eure Gefühle es für mich sind.“

Empfinden wir dann aufrichtig liebevolle Zuneigung für diese Menschen, versuchen wir uns auf jeden Einzelnen mit Spiegelgleichem Gewahrsein zu konzentrieren. Wie eine Videokamera versuchen wir alle Informationen, die wir sehen, aufzunehmen, kommentarlos und ohne Geschichten in unserem Geist zu erfinden. Danach versuchen wir mehrere der Personen auf den Fotos in unterschiedlichen Gruppierungen gleichzeitig mit dem Gewahrsein der Gleichheit zu betrachten. Mit einer Verbindung aus dem Gewahrsein der Gleichheit und dem Gewahrsein der Wirklichkeit versuchen wir zu erkennen, dass sie alle gleichermaßen glücklich sein und nicht leiden wollen. Auf der Basis dieser liebevollen Zuwendung versuchen wir für alle gleichermaßen Liebe, Mitgefühl und Fürsorge zu empfinden. Dann betrachten wir jeden Einzelnen mit dem Gewahrsein seiner oder ihrer Einzigartigkeit. Dies versuchen wir mit Hochachtung für jede einzelnen Person als Individuum zu verbinden, ohne seinen oder ihren Namen dabei aussprechen zu müssen.

Dann versuchen wir, uns mit Vollendendem Gewahrsein zu kon­zentrieren. Besonders die Verbindung aus Vollendendem Gewahrsein und Gewahrsein der Wirklichkeit hilft uns zu verstehen, wie wir mit jedem umzugehen haben. Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, mit der ganzen Gruppe beim Essen zu sitzen. Wir hätten keinerlei Schwierigkeiten uns einem nach dem anderen zuzuwenden und mit allen entsprechend ihres Alters, ihrer Interessen und ihrer Persönlichkeit zu unterhalten. Als Nächstes versuchen wir, das Gewahr­sein der tiefsten Wirklichkeit anzuwenden. Wir versuchen jeden nicht nur in seiner oder ihrer Rolle als Bruder oder Schwester, Vater, Mutter, Kind oder Freund zu sehen, sondern zu erkennen, dass jede oder jeder von ihnen noch viel mehr sein kann. Ein Mensch mag zwar jetzt ein Kind mit bestimmten Interessen sein, er oder sie wird jedoch wachsen und sich im Laufe der Jahre verändern. Wir versuchen also, das Kind als offen für alle Möglichkeiten zu sehen.

Schließlich versuchen wir, mit diesen Geisteshaltungen und Arten des Gewahrseins vertraut zu werden, indem wir sieben Schlüs­selformeln verwenden:

  • „Keine Geschichten“,
  • „liebevolle Zuwendung“,
  • „Kamera“,
  • „gleich“,
  • „einzigartig“,
  • „umgehen können“,
  • „offen“.

Zuerst arbeiten wir jeweils mit nur einer Geisteshaltung oder Art des Gewahrseins, während wir die Abfolge mehrmals wiederholen. Dann versuchen wir eine zunehmende Anzahl dieser Hal­tungen zu verbinden, indem wir zuerst zwei Schlüsselformeln zusammen verwenden, dann drei und so weiter, bis wir ein integriertes Netzwerk aller sieben Geisteshaltungen aufrechterhalten können.

Als Nächstes legen wir ein Illustriertenfoto eines Fremden neben das Foto mit unseren Lieben und wiederholen die Übung. Obwohl wir den Fremden ja nicht persönlich kennen, haben wir, gegründet auf unser Spiegelgleiches Gewahrsein seiner Gestalt, doch eine gewisse Vorstellung, wie wir aus der Verbindung von Vollendendem Gewahrsein und Gewahrsein der Wirklichkeit heraus mit ihm umgehen können. Auf jeden Fall können wir mit Fremden im Allgemeinen umgehen. Als letzten Schritt dieser ersten Phase legen wir nun zu den beiden bereits vorhandenen Fotos das Bild eines Menschen, den wir nicht mögen, und wiederholen den Vorgang noch einmal.

Während der zweiten Übungsphase sitzen wir wieder mit unserer Gruppe im Kreis. Bei jedem Schritt betrachten wir jede Person für sich mit einem ruhigen Geist, liebevoller Zuneigung und einer der fünf Arten des Gewahrseins und gebrauchen wie zuvor die sieben Schlüsselformeln. Hier ist es besonders hilfreich, beim anfänglichen Erzeugen der verschiedenen Arten des Gewahrseins den entsprechenden Schlüsselbegriff zu benutzen und ihn gelegentlich mit „keine Geschichten“ und „ liebevolle Zuwendung“ auszutauschen. In der Gruppenpraxis ist es besonders günstig, jede Person zuerst mit liebevoller Zuwendung zu betrachten; damit vermeidet man, dass sich das Objekt unseres Spiegelgleichen Gewahrseins so fühlt, als sei es den dreisten Blicken eines Voyeurs ausgeliefert.

Wenn wir im Falle des Gewahrseins der Gleichheit zwei oder drei Personen zugleich betrachten, sehen wir sie einfach bloß mit gleicher Anteilnahme. Dabei belassen wir es, und ergänzen dieses Ge­wahrsein nicht durch das Gewahrsein der Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Wir müssen weder die Art und Weise, auf die sich die Personen gleichen, herausstellen, noch an die Dinge denken, die sie unterscheiden. Das gilt auch für das Gewahrseins der Einzigartigkeit: Wir sehen einfach jede Person als Individuum, ohne die Faktoren, die diese Individualität ausmachen, weiter zu berücksichtigen. Was das Vollendende Gewahrsein angeht, richten wir unsere Energie auf jede Person mit dem tief empfundenen Wunsch mit ihm oder ihr umgehen zu können. Wir sind bereit, weiter auf den Menschen zuzugehen, als er uns entgegenkommt. Aber auch hier ist es nicht nötig, genau zu ermitteln, wie wir am besten eine Verbindung herstellen können. Beim Gewahrsein der Wirklichkeit konzentrieren wir uns nicht nur auf die Tatsache, dass jeder Mensch offen für Veränderung ist, sondern auch auf unsere eigene Flexibilität und Offenheit ihm oder ihr gegenüber.

Wenn wir die sieben Geisteshaltungen verbinden wollen, bli­cken wir nicht mehr weiter im Kreis umher. Stattdessen konzentrieren wir uns während der ganzen Runde auf eine Gruppe von zwei oder drei Personen. Wenn wir diesen Schritt wiederholen, um ihn besser integrieren zu können, wählen wir eine andere Gruppe.

Zu Beginn der dritten Phase sitzen wir mit mehreren Leuten vor einem großen Spiegel. Unser eigenes Bild als Teil einer Gruppe zu betrachten und zu erkennen, dass wir und die anderen gleich sind, kann eine machtvolle und lohnende Erfahrung sein. Wir gehen durch die Schritte der Übung wie in der zweiten Phase.

Als Nächstes sitzen wir allein ohne Spiegel. Nachdem wir versucht haben, geistige Stille und ein warmherziges Gefühl liebevoller Zuwendung für uns selbst zu erzeugen, richten wir unser Spiegelgleiches Gewahrsein auf unsere momentanen Empfindungen und Emotionen. Wir versuchen, uns die komplexen Faktoren bewusst zu machen, die den Augenblick bestimmen, ohne sie jedoch geistig zu kommentieren. Dieser Teil der Übung ist wirksamer, wenn wir ihn zu Beginn einer Sitzung machen, solange die Gefühle des Tages noch unsere Stimmung beeinflussen. Unsere Wahrnehmung sollte auch alle urteilenden Gefühle einschließen, die wir momentan uns selbst gegenüber hegen. Auch wenn wir gerade überhaupt nichts empfinden, müssen wir das einschließen, wenn es unser augenblicklicher Zustand sein sollte.

Mit dem Gewahrsein der Gleichheit erkennen wir die Gleichheit unserer gegenwärtigen Gefühle mit allen anderen Gefühlen, die wir irgendwann empfunden haben – es sind bloß Gefühle, nicht mehr und nicht weniger. Durch diese Einsicht können wir ihnen mit Gleichmut und furchtlos begegnen. Indem wir das Gewahrsein der Gleichheit mit dem Gewahrsein der Wirklichkeit verbinden, versuchen wir die Muster in unseren Gefühlen und Emotionen zu sehen und zu identifizieren. Mit dem Gewahrsein der Individualität respektieren wir die Einzigartigkeit unserer gegenwärtigen Erfahrung. Mit Vollendendem Gewahrsein gekoppelt mit dem Gewahr­sein der Wirklichkeit versuchen wir zu erkennen, wie wir mit dem, was wir soeben fühlen, umgehen können. Vielleicht müssen wir freundlicher uns selbst gegenüber sein, vielleicht müssen wir aber auch bestimmter werden und uns aus einer Depression herausarbeiten. Mit dem Gewahrsein der tiefsten Wirklichkeit versuchen wir uns schließlich nicht so dauerhaft mit unserer augenblicklichen Stimmung zu identifizieren. Wir erkennen, dass unsere Stimmungen und wir selbst offen für Veränderung sind. Wieder benutzen wir die sieben Schlüs­selformeln, um diese Geisteshaltungen und Arten des Gewahrseins zu einem integrierten Netzwerk zu verbinden.

Als Nächstes legen wir eine Reihe von Fotos von uns selbst vor uns aus, die unsere ganzes Leben umspannen. Zuerst richten wir unser Spiegelgleiches Gewahrsein auf die Gefühle und Emotionen, die jedes von ihnen in uns hervorruft. Dann wiederholen wir den Pro­zess, den wir bei der Konzentration auf unsere gegenwärtige Stimmung benutzt haben, und arbeiten mit den vier anderen Arten des Gewahrseins. Wir beenden die Übung, indem wir das Gewahrsein der Gleichheit darauf richten, uns mit der gleichen liebevollen Zuwendung in allen Phasen unseres Lebens zu betrachten.

Der Ansatz, den die Karma-Kagyü-Tradition in ihrem ganz spezifischen System Tiefen Gewahrseins (namshe yeshe) den fünf Arten des Gewahrseins gegenüber einnimmt, legt einen letzten, auf uns selbst gerichteten Schritt nahe. Wir können ihn üben, während wir einfach nur still dasitzen, ohne jede Unterstützung. Zuerst öffnen wir uns dann mit Spiegelgleichem Gewahrsein der gesamten Weite unserer Persönlichkeit, indem wir einfach ruhig werden und ihren Grund widerspiegeln – unseren Geist des Klaren Lichts. Da der Geist des Klaren Lichts frei ist von konzeptuellen Gedanken, erhalten wir das Gewahrsein der tiefsten Wirklichkeit aufrecht, indem wir unseren Charakter ohne jedes Urteil und ohne Geschichten einfach betrachten. Während wir unsere Persönlichkeit genau betrachten, wenden wir das Gewahrsein der Gleichheit an, um allen ihren As­pekten gleiche Achtung zu zollen. Auf diese Weise erhalten wir Gleich­­mut aufrecht.

Mit dem Gewahrsein der Einzigartigkeit richten wir unsere Aufmerksamkeit dann auf einen spezifischen Aspekt unseres Charakters. Mit Vollendendem Gewahrsein erweitern wir unsere Energie, um mit ihm umzugehen. Mit der Verbindung des Vollendenden Gewahrseins und des Gewahrseins der Wirklichkeit erkennen wir schließlich, wie wir mit diesem Aspekt umgehen müssen und wie wir ihn auf praktische Art und Weise in unseren Alltag integrieren können. Indem wir uns seiner Werte und seiner Unzulänglichkeiten bewusst werden, versuchen wir, Methoden zu finden, erstere zu verstärken und letztere zu beseitigen oder zumindest zu verringern. Wir können diesen Teil der Übung wiederholen, indem wir unse­re Aufmerksamkeit weiteren Facetten unserer Persönlichkeit zuwenden.

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