Eine Beziehung zu einem spirituellen Lehrer aufbauen

Die klassische buddhistische Literatur in Sanskrit und Tibetisch liefert das Quellenmaterial für den Umgang mit einem spirituellen Mentor. Die meisten der Texte beziehen sich allerdings explizit lediglich auf die Beziehung zu einem tantrischen Meister. Zu den wichtigsten Beispielen gehören Ashvaghoshas „Fünfzig Verse über den Guru“, seine Kommentare und alle Texte, die die Vorgehensweise betreffen, wenn man Mahamudra, Dzogchen, „den Pfad und seine Ergebnisse“ (lamdre, tib. „lam-’bras“) sowie „Verwirklichung durch den Guru“ praktiziert.

Obwohl viele Punkte auch in diesen Texten eine allgemeine Bedeutungsebene aufweisen, die gleichermaßen für die Sutra-Ebene gilt, müssen wir doch sorgfältig unterscheiden, welche der Texte Übereinstimmungen mit dem Sutra aufweisen und welche ausschließlich zum höchsten Tantra gehören. Sherab Sengge arbeitete die entsprechenden Kriterien heraus. Lehren mit einer „gemeinsamen Bedeutung“ sind Lehren des Anuttarayoga-Tantra, die mit den wesentlichen Aussagen der Sutras und mit den allgemeinen Erfahrungen, die Sutra-Praktizierende auf dem Sutra-Pfad machen, übereinstimmen müssen. Wenn die Lehren mit gemeinsamer Bedeutung Widersprüche zum Sutra aufweisen und leicht misszuverstehen sind, wäre es nicht richtig, Lehren dieser Bedeutungsebene auch Sutra-Praktizierende zu lehren.

In den traditionellen Erklärungen bezieht sich der Begriff „Sutra-Praktizierender“ auf einen Mahayana-Schüler, wie wir ihn zuvor definiert haben. Lassen Sie uns unsere Erörterung über diese Definition eines Sutra-Praktizierenden hinaus erweitern und auch die davor liegenden Entwicklungsstufen von spirituell Suchenden mit einbeziehen, wobei wir zunächst mit Anfängern beginnen wollen, die als Studenten des Buddhismus in ein Dharmazentrum kommen. Jede Unterweisung aus einem tantrischen Text, die eine „gemeinsame Bedeutung“ besitzt, die also auf alle Ebenen der Beziehung zwischen einem spirituell Suchenden und einem spirituellen Lehrer anwendbar ist, muss sich mit den Überzeugungen und der allgemeinen Erfahrung von am Buddhismus interessierten Anfängern aus der breiten Öffentlichkeit vertragen. Wenn eine bestimmte Unterweisung dieses Kriterium nicht erfüllt, gilt sie nicht für Anfänger, und es wäre unangebracht ihnen diesen Lehrstoff zu vermitteln.

So betont zum Beispiel die Guhyasamaja- und Kalachakra-Literatur die Notwendigkeit, einen tantrischen Meister aufs Genaueste zu prüfen, bevor man sich dazu entschließt, von diesem Menschen eine Ermächtigung zu empfangen. Dieselbe Literatur enthält eine Vorschrift, gemäß der man aufhört, bei einem Lehrer nach Fehlern zu suchen. Diese Vorschrift gilt allerdings erst, nachdem man zum tantrischen Schüler eines Meisters geworden ist, keinesfalls aber bevor man diesen Schritt vollzogen hat. Darüber hinaus ist auch ein tantrischer Meister dazu angehalten, einen potenziellen Schüler auf Herz und Nieren zu prüfen, bevor er ihm eine Ermächtigung erteilt. Ashvaghosha hat den Grund dafür erklärt. Die tantrischen Gelübde, die ein Schüler im Verlauf einer Ermächtigung ablegt, besiegeln eine enge Verbindung mit dem tantrischen Meister. Jede Seite muss sich sicher sein, dass sie der jeweils anderen Seite vertrauen kann, diese Verbindung und alles wofür sie steht in Ehren zu halten. Ein Verlust des Vertrauens und des Glaubens führt leicht zu spiritueller Verzweiflung.

Dass zwei Menschen sich gegenseitig prüfen, bevor sie freiwillig eine verpflichtende Beziehung zueinander eingehen, entspricht den allgemeinen Gepflogenheiten und Praktiken. Ein potenzieller Arbeitgeber und Angestellter befragen sich gegenseitig in einem Vorstellungsgespräch, bevor sie einen Vertrag unterzeichnen. Ein Paar lernt sich erst einmal wirklich gut kennen, bevor es sich zur Heirat entschließt. Dass sich also ein spirituell Suchender und ein Lehrer gegenseitig prüfen, bevor sie sich auf ein ernsthaftes Seminar von Anweisungen einlassen, ist nur vernünftig. Den eigenen spirituellen Lehrer als einen Buddha zu sehen, würde dem durchschnittlichen Menschen andererseits als ziemlich Sekten-ähnlich und fanatisch erscheinen. Hier kann es sich also auf keinen Fall um eine allgemeingültige Anweisung handeln, die auch für Anfänger im Buddhismus Gültigkeit hat.

Für wen die Texte des Stufenpfades gedacht sind

Alle tibetisch-buddhistischen Überlieferungslinien stimmen darin überein, dass zum Erlangen der Erleuchtung eine Kombination von Sutra- und Tantra-Praxis erforderlich ist. Daher müssen potenzielle tantrische Schüler, bevor sie eine Ermächtigung – ganz besonders in die höchste Tantraklasse – erhalten, noch einmal die Stufen des Sutra-Pfades überdenken. Sie müssen die Literatur des Stufenpfades auch im Zusammenhang miteinander kombinierter Sutra- und Tantra-Praxis begreifen. Die Autoren dieser Literatur hatten beim Verfassen ihrer Texte niemals Anfänger in westlichen Dharmazentren im Sinn, die noch so gut wie nichts über den Buddhismus wissen. Die meisten der wichtigsten Texte über den Stufenpfad waren für Menschen gedacht, die mit dem Ziel zusammengekommen sind, eine Ermächtigung ins höchste Tantra zu empfangen. Um die Teilnehmer auf die Ermächtigung vorzubereiten, lehrte der tantrische Meister den Sutra-Teil eines Textes über den Stufenpfad an den Tagen, die dem Ritual unmittelbar vorangingen. Dabei ging man allgemein davon aus, dass die Initianten bereits mit dem Lehrstoff vertraut waren und lediglich einen Auffrischungskurs benötigten.

Auch heute noch geben tibetische Lamas, nachdem sie ihre öffentlichen Unterweisungen über den Sutra-Teil der Texte über den Stufenpfad beendet haben, häufig eine tantrische Ermächtigung. Dabei erwähnen sie nicht unbedingt explizit, dass die Unterweisungen ein Teil der Vorbereitung für die tantrische Ermächtigung sind. Und die Zuhörer sehen ihrerseits in der Ermächtigung möglicherweise lediglich einen Bonus am Ende des Vortrages. Dennoch sind die Unterweisungen über den Stufenpfad eine Vorbereitung für die Ermächtigung.

Ferner bestand ein Großteil der Zielgruppe, die sich die Vorträge über den Stufenpfad anhörten, traditionell aus Mönchen und Nonnen. Sie hatten nicht nur den Sutra-Pfad bis zu einem gewissen Grad studiert, sondern sich auch durch Gelübde verpflichtet, für den Rest ihres Lebens der buddhistischen Praxis den wichtigsten Platz in ihrem Leben einzuräumen. Und selbst wenn sich ein Text über den Stufenpfad hauptsächlich an Laien richtete, wie im Falle der Nyingma-Version eines solchen Textes von Paltrül, war der Sinn und Zweck doch eindeutig. Die Gliederung teilte den Lehrstoff in äußere und innere Vorbereitungen auf – Vorbereitungen für die Ermächtigung ins höchste Tantra und die entsprechende Praxis.

Wie der Lehrstoffs in den Texten über den Stufenpfad zu bewerten ist

Die als Vorbereitung einer Ermächtigung gelehrten Texte über den Stufenpfad, lassen sich in zwei Kategorien gliedern. Entweder handeln sie die Stufen des Sutra- und Tantra-Pfades zusammen in einem einzigen Band ab oder sie behandeln nur den Sutra-Teil, weisen auf die folgenden Tantra-Stufen lediglich hin und überlassen die Darstellung des Tantras einem anderen Text. Erläuterungen zur Schüler-Mentor-Beziehung, die im Tantra-Abschnitt der Texte über den Stufenpfad gegeben werden, erfordern dieselbe Bewertung, wie die Erklärungen aus spezifisch tantrischen Quellen. Es gilt zu untersuchen, welche ihrer Aussagen eine Bedeutung haben, die sich auf all die verschiedenen Formen von Beziehungen anwenden lässt.

Abgesehen von einigen bemerkenswerten Ausnahmen in der Literatur der Sakya- und Drugpa-Kagyü-Tradition, wird die Schüler-Mentor-Beziehung meistens im Sutra-Teil der Texte über den Stufenpfad erläutert. Obwohl der Stoff also nicht ausdrücklich tantrischer Natur ist, zielen die Unterweisungen doch darauf ab, Schüler auf die bevorstehende Beziehung zu einem tantrischen Meister vorzubereiten. Also muss auch dieser Lehrstoff auf seine allgemeine Anwendbarkeit hin überprüft werden.

Die verschiedenen Ebenen der Guru-Meditation, wie sie in den Texten über den Stufenpfad gelehrt werden

Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, in etwa zur Zeit als Longchenpa sein Werk „Ruhe und Erholung in der Natur des Geistes“ verfasst hat, enthalten die Darstellungen des Stufenpfades in Bezug auf die Beziehung zwischen Schüler und Mentor so gut wie immer eindeutige Anweisungen darüber, welche Gedanken und Handlungen gegenüber dem Mentor für angemessen erachtet werden. Die beschriebenen Vorgehensweisen bilden eine allgemeine Grundlage für die Dharmapraxis, die allen engagierten Schülern eines Mentors gemeinsam ist, unabhängig davon, ob diese sich auf dem Sutra-Pfad oder auf dem tantrischen Weg üben. Einige Verhaltensweisen, etwa höflich und respektvoll zu sein, eignen sich hervorragend für jedwede Beziehung zwischen einem spirituell Suchendem und einem Lehrer. Andere Anweisungen, etwa den eigenen Mentor als einen Buddha zu betrachten, erfordern, abhängig vom Niveau der Schüler-Mentor-Beziehung, nach Schwierigkeitsgraden gestaffelte Erklärungen. Diese Texte kommen jedoch nicht als Lehren mit einer gemeinsamen Bedeutung infrage, die auch für die Beziehung zu Buddhismus-Professoren, Dharma-Ausbildern oder Meditations- bzw. Ritualtrainern gelten.

Viele der Texte über den Stufenpfad, die die Ebenen von Sutra und Tantra in einem einzigen Band behandeln, enthalten auch Anweisungen für die Meditation über den spirituellen Mentor. Die in diesen Texten am häufigsten gelehrte Form des Guru-Yoga fordert die Schüler auf, sich vorzustellen, dass ihr Körper, ihre Sprache und ihr Geist mit den entsprechenden Bereichen ihres spirituellen Mentors verschmelzen, der als Buddha gesehen wird. Die Meditation beinhaltet gewöhnlich auch, dass man sich den Mentor in der körperlichen Form einer Buddha-Gestalt vorstellt, etwa in der Gestalt von Vajradhara; oder die Meditation beinhaltet, dass man im Herzen des Mentors eine Buddha-Gestalt visualisiert. Vajradhara ist die Verkörperung des voll erleuchteten Geistes des klaren Lichts eines Buddha. Einige Formen des Guru-Yogas fordern die Schüler auf, sich ihren Mentor in der Form eines Meisters der Überlieferungslinie vorzustellen, insbesondere einen Meister der speziell mit dem höchsten Tantra verbunden ist und als eine Buddha-Gestalt angesehen wird, wie zum Beispiel Padmasambhava.

Suchende der buddhistischen Tradition richten ihre Aufmerksamkeit häufig auf visualisierte Bilder von Buddha Shakyamuni, um sich dadurch in ihrer Konzentrationsfähigkeit zu schulen. Das tun sie auch schon bevor sie eine Beziehung zu einem Mentor eingehen.

Wenn man seine Aufmerksamkeit auf eine Buddha-Gestalt hin auszurichten, die speziell mit dem höchsten Tantra verbunden ist, so befindet sich diese Übung nicht in Übereinstimmung mit den Gewohnheiten oder allgemeinen Erfahrungen eines spirituell Suchenden, der nichts mit dem höchsten Tantra im Sinn hat. Daher ist das Guru-Yoga, das ja die Visualisation derartiger Formen beinhaltet, keine allgemeingültige Meditation. Das Guru-Yoga haben nur Praktizierende auf ihrer Agenda, die sich bewusst auf das höchste Tantra vorbereiteten, andere Übende hingegen nicht. Ein derartiges Guru-Yoga gehört ausschließlich in den Bereich des höchsten Tantra.

Von all den Texten über den Stufenpfad, die sich ausschließlich mit den Sutra-Lehren beschäftigen, begründete Atishas Text: „Die Stufen der Praxis mit einem Guru“ die Tradition eines Guru-Yoga auf der Sutra-Ebene. Der Text enthält das Darbringen einer siebenfachen Anrufung und die Bitte um Inspiration. Die siebenfache Anrufung, wie Shantideva sie skizziert hat, beginnt mit der Anrufung der drei Zufluchtsjuwelen oder einem entsprechendem Symbol für die drei Juwelen. Die sieben Teile, die den drei Juwelen dargebracht werden, beinhalten Niederwerfungen, Darbringung von Gaben, Eingeständnis von Fehlern, Freude an den Tugenden anderer Menschen, Erbitten von Lehren, das inständige Ersuchen an die Gurus nicht ins Nirwana einzugehen und das Widmen des durch die Praxis angesammelten guten Potenzials.

Spätere Kadam-Meister, wie etwa Sangwejin, erweiterten die Meditation, indem sie die Inspiration des Schülers mit in die Meditation einbezogen, die der Schüler dadurch erlangen konnte, dass er sich die guten Qualitäten und die Güte seines Mentors vergegenwärtigte. Tsongkhapa und nachfolgende Gelugpa-Meister, bis hin zum Fünften Dalai Lama, arbeiteten das Modell von Sangwejin in ihren eigenen Texten über den Stufenpfad weiter aus. Da spirituelle Lehrer jeder Ebene, angefangen mit den Buddhismus-Professoren, einige gute Qualitäten besitzen, so zumindest die Güte, Anweisungen zu geben, können spirituell Suchende jeder Stufe Inspiration gewinnen, indem sie sich auf diese Qualitäten konzentrieren. Das ist eine Praxis, die für alle Praktizierenden gilt und mit der allgemeinen Erfahrung übereinstimmt. So inspiriert es beispielsweise viele Menschen, wenn sie sich Festansprachen anhören, die bei Feierlichkeiten zum Gedenken an Nationalhelden abgehalten werden.

In seiner Schrift „Ein glückseliger Pfad“, verschob der Vierte Panchen Lama die Betonung im Guru-Yoga, wie es Tsongkhapa behandelt hat. Im Rahmen seiner Darstellung des Sutra-Teils des Stufenpfades betont er die Notwendigkeit, dass Schüler ihre spirituellen Mentoren als Buddhas betrachten. Indem er die Visualisation einfügte, bei der man sich Vajradhara im Herzen des Mentors, vorstellt, wies er auf die Absicht hin, die das höchste Tantra dieser Stufe gab. Spätere Texte der Gelugpas über den Stufenpfad, bis hin zu Pabongkas „Befreiung in unseren Händen“, sind dieser Ausrichtung des höchsten Tantras gefolgt und haben das Modell des Vierten Panchen Lama übernommen und ausgearbeitet. Wie die strikt zum höchsten Tantra gehörigen Formen des Guru-Yoga, so ist auch die Methode, den Guru als Buddha zu sehen, die sich in den späteren Texten der Gelug-Tradition über den Stufenpfad findet, keine allgemeingültige Praxis für Schüler, die sich nicht mit dem höchsten Tantra beschäftigen.

Bei vielen Menschen des Abendlandes stiftet dieser Punkt Verwirrung. Einige begegnen dem tibetischen Buddhismus erstmalig anlässlich einer Ermächtigung in das höchste Tantra, zum Beispiel bei einer Kalachakra-Initiation, oder sie wohnen schon zu Anfang ihres spirituellen Pfades einer Ermächtigung bei. Sie verstehen möglicherweise gar nichts von dem, was während des Rituals vor sich geht, oder sie sitzen einfach als Beobachter dabei. Ohne aber die Gelübde zu nehmen, und zwar im vollen Bewusstsein und mit der Absicht sie auch zu halten, gehen sie keine Schüler-Mentor-Beziehung zu dem tantrischen Meister ein. Wönpo Sherab Jungne geht sogar noch weiter, wenn er sagt, dass niemand wirklich eine Ermächtigung erhält, wenn er während der Zeremonie nicht ein gewisses Niveau einer bewussten Erfahrung und Einsicht erlangt, das bei ihm mentale Blockaden beseitigt und Samen für die Verwirklichung sät. Im besten Falle erfahren Beobachter einer Ermächtigung eine Inspiration, die Potenziale dafür aufbaut, sich in Zukunft ernsthafter mit dem höchsten Tantra zu beschäftigen.

Die Qualitäten eines spirituellen Lehrers

Da die Guru-Meditation der Sutra-Ebene, wie sie von der Kadam-Tradition formuliert wurde, sich auf die guten Qualitäten und die Güte eines spirituellen Lehrers konzentriert, muss man diese Qualitäten kennen und dann den Lehrer daraufhin prüfen, ob er sie besitzt. Die klassischen Texte listen nur die Qualifikationen für spirituelle Mentoren auf. Unsere Analyse der Begriffe Guru, Lama und spiritueller Freund hat uns bereits mit einigen der wichtigsten Punkte vertraut gemacht. Zufluchts- und Gelübde-Präzeptoren, Mahayana-Meister und tantrische Meister müssen jeweils in zunehmendem Maße über zusätzliche Talente, Fähigkeiten und persönliche Vorzüge verfügen. Darüber hinaus müssen die Lehrer der höheren Stufen auch über die Qualitäten der niedrigeren Stufen verfügen.

So müssen zum Beispiel Gelübde-Präzeptoren ihre Befreiungsgelübde rein gehalten haben, sei es als Laien oder als Ordinierte. Mahayana-Meister müssen zusätzlich über fortgeschrittene Stufen der Konzentration verfügen, benötigen eine gefestigte Verwirklichung von Bodhichitta und Leerheit und müssen einen fortgeschrittenen Grad an Freiheit von störenden Emotionen wie Gier, Anhaftung, Ärger und Naivität erlangt haben. Tantrische Meister müssen zusätzlich noch die Meisterschaft über eine enorme Bandbreite tantrischer Rituale erlangt haben. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie das nötige Fachwissen über den technischen Ablauf der Rituale besitzen. Die tantrischen Meister müssen auch in der Lage sein, wirkliche erleuchtende Kräfte in das Ritual einzubringen.

Anfänger des Buddhismus beginnen ihre Studien häufig mit Lehrern, die nicht über die Kompetenz spiritueller Mentoren verfügen. Dennoch müssen auch spirituelle Lehrer niedrigerer Stufen bestimmte Merkmale der Mentoren aufweisen. Buddhismus-Professoren brauchen zum Beispiel gute Gelehrsamkeit, Dharma-Ausbilder brauchen Gelehrsamkeit plus Einsicht aus persönlicher Erfahrung, und Meditations- oder Ritualtrainer benötigen Gelehrsamkeit, Erfahrung und Fachwissen in Bezug auf die Trainingsmethoden. Darüber hinaus müssen die spirituellen Lehrer sämtlicher Stufen ethisch einwandfrei, gütig, mitfühlend, geduldig, unprätentiös und emotional gereift sein. Aber vor allem müssen spirituelle Lehrer – zusätzlich zu all den oben erwähnten Punkten – inspirierend sein und zwar insbesondere für uns. Ein Lehrer mag als spiritueller Mentor voll qualifiziert sein und kann möglicherweise sogar viele andere Schüler inspirieren; wenn er oder sie jedoch nicht in der Lage ist, unser Herz durch Inspiration zu bewegen, werden wir von der Beziehung nicht voll profitieren können.

Voll qualifizierte Lehrer sind allerdings überaus selten, nicht erst heutzutage, sondern auch schon in früheren Zeiten. Pundarika, der königliche Shambhala-Kommentator des „Kalachakra-Tantra“, erklärt in seinem Werk „Annäherung an die tiefste Ebene“: „In diesem Zeitalter der Konflikte zeichnen sich die spirituellen Mentoren durch eine Mischung aus Fehlern und Qualitäten aus. Niemand ist ohne Fehler. Prüfe daher genau und verlass dich auf diejenigen, mit überwiegend guten Qualitäten.“

Sorgfältige Prüfung

Einen potenziellen spirituellen Lehrer zu bewerten ist niemals ein einfacher Prozess. In der Guhyasamaja-Literatur steht, dass es möglicherweise notwendig ist, dass die potenzielle Schüler und Mentoren die Qualitäten des jeweils anderen bis zu zwölf Jahre lang gegenseitig untersuchen. Dieser Rat bezieht sich insbesondere darauf, den jeweils anderen genauestens zu untersuchen, bevor man eine Ermächtigung in das höchste Tantra empfängt oder erteilt. Die Aussage beinhaltet nicht, dass die Prüfung aus der Ferne stattfinden sollte. Als potenzieller tantrischer Schüler können wir einen möglichen tantrischen Meister dadurch eingehend untersuchen, indem wir zunächst mehrere Jahre lang bei ihm studieren und ihn dabei lediglich als unseren Mahayana-Meister betrachten. Aber auch noch bevor wir uns entschließen Zufluchtsgelübde bei einem Meister abzulegen oder sein Mahayana-Schüler zu werden, können wir seine Qualitäten prüfen, indem wir zuerst mit ihm als unserem Buddhismus-Professor, Dharma-Ausbilder oder Meditations- bzw. Ritualtrainer studieren.

Tsarchen hielt die außersinnliche Wahrnehmung für das verlässlichste Werkzeug für die gegenseitige Prüfung spirituell Suchender und spiritueller Lehrer. Die wahren Qualitäten eines Menschen können verborgen sein, der gewöhnlichen Beobachtung unzugänglich. Wenn Suchender oder Lehrer nicht über diese besonderen Kräfte verfügen, so fährt Tsarchen fort, können sie den Charakter und die Talente des jeweils anderen durch genaueste Prüfung einschätzen. Zur Bestätigung ihrer Untersuchungsergebnisse müssen sie auch andere Menschen befragen, die eine gültige Informationsquelle über den jeweils anderen darstellen. Man darf sich niemals bloß auf den Ruhm, den Charme oder das persönliche Charisma eines Menschen verlassen. Sakya Pandita hat das in seinem Text: „Ein kostbarer Schatz ausgesuchter Redensarten“ ganz besonders schön zum Ausdruck gebracht. „Die Weisen wissen, weil sie selbst eine Unterscheidung vornehmen, während die Toren populären Moden folgen. Wenn ein alter Hund nur laut genug bellt, kommen die anderen grundlos herbei gerannt.“

Da nur wenige Menschen über außersinnliche Wahrnehmung verfügen, müssen sich die meisten spirituell Suchenden wohl auf sorgfältige Prüfung verlassen. Obwohl die klassischen Texte lehren, dass Erscheinungen täuschen können, müssen wir die Erscheinungen doch nach unserem besten Vermögen untersuchen. Der Buddha gab in einer seiner Lehrreden ein Beispiel für das Dilemma: „Du kannst einen Fisch, der tief unter der Oberfläche schwimmt vielleicht nicht sehen, aber an Kräuselungen der Wasseroberfläche kannst du sein Vorhandensein erkennen.“ Auf ähnliche Weise mögen wir zwar nicht in der Lage sein die verborgenen Qualitäten eines Lehrers zu erkennen, aber wir können ihr Vorhandensein aus Anzeichen im Verhalten des Menschen ableiten.

Um uns, wenn wir blutige Anfänger im Buddhismus sind, mit dem Verhalten eines potenziellen Lehrers vertraut zu machen, fragen wir zuerst einmal andere Menschen, deren Meinung wir respektieren, was sie denn von diesem Menschen halten. Wenn sie berichten, dass dieser Lehrer ein Scharlatan oder ein Schurke sei, brauchen wir keine weitere Zeit zu verschwenden. Auf ähnliche Weise sollten wir die Verlässlichkeit eines buddhistischen Autors prüfen, bevor wir eines seiner Bücher lesen. Für Anfänger, die noch nicht unterscheiden können, was authentischer Buddhismus ist und was nicht, kann der Besuch eines Vortrages eines zwielichtigen Lehrers oder das Lesen eines Buches eines schlechten Autors, leicht dazu führen, dass sie plötzlich einem fragwürdigen spirituellen Pfad folgen. Für Anfänger ist es besser diese Gefahren wenn irgend möglich zu vermeiden. Direkter Kontakt mit fragwürdigen Lehrern oder Autoren ist nur dann hilfreich, wenn wir sicher auf dem buddhistischen Pfad sind und nicht mehr irregeleitet werden können, und wenn Anfänger, die sich über spirituelle Lehrer informieren wollen, uns als vertrauenswürdige Informationsquelle konsultieren.

Wenn wir als Anfänger einen positiven Bericht über einen Lehrer oder Autor bekommen, können wir einen Vortrag oder eine Belehrung des Lehrers besuchen oder ein Buch des Autors lesen, ohne Gefahr zu laufen, verwirrt oder irregeleitet zu werden. Bloß zu einem Vortrag eines Lehrers zu gehen oder eines seiner Bücher zu lesen, macht den Menschen noch nicht zu einem unserer spirituellen Lehrer. Der Aufbau einer Beziehung, selbst mit einem Buddhismus-Professor, erfordert, dass man ganz bewusst die Absicht fasst, mit diesem Menschen studieren zu wollen.

Viele Standardtexte, die den Umgang mit spirituellen Lehrern behandeln, wie etwa Kongtrüls „Lampe für die definitive Bedeutung“, erklären, dass ein Suchender jeden Menschen, der ihm auch nur einen Dharma-Vers gelehrt hat, als einen seiner spirituellen Lehrer ansehen sollten. Das bezieht sich jedoch nicht darauf, dass man lediglich einen Dharmavortrag anhört oder eine Vorlesung über Buddhismus an einer Universität besucht. Haben wir aber erst einmal einen Lehrer als authentische Quelle bestätigt und akzeptiert, dann ist es äußerst kostbar auch nur einen einzigen Dharma-Vers von diesem Menschen zu hören – das ist der eigentliche Sinn dieser Aussage.

Wir können einen potenziellen Lehrer noch weiter eingehend untersuchen, indem wir unsere intuitiven Gefühle und andere subtile Anzeichen prüfen. Tibeter zum Beispiel suchen nach den folgenden Zeichen, um festzustellen, ob sie eine karmische Verbindung mit einem spirituellen Lehrer haben. Fühlt man irgendetwas besonders, wenn man dem Menschen zum ersten Mal begegnet oder seinen Namen hört? Wenn man den Lehrer zum ersten Mal besucht oder versucht ihn zu kontaktieren, trifft man ihn an? Gibt es irgendwelche glücksverheißende Omen, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet, zum Beispiel, dass die Sonne aus den Wolken hervorkommt? Welche Träume hat man nach der Begegnung?

Nicht alle Zeichen treten auch tatsächlich in jedem Fall auf. Ihr Vorkommen oder ihre Abwesenheit kann auch überhaupt nichts bedeuten. So kann es zum Beispiel aus einer Erwartungshaltung und überaktiver Vorstellungskraft zu einem starken intuitiven Gefühl kommen. Die Abwesenheit eines intuitiven Gefühls, kann durch einen Mangel an Sensibilität zustande kommen. Die Berücksichtigung intuitiver Gefühle und subtiler Zeichen verlangt Selbstkenntnis und einen nüchternen Geist.

Ein weiterer Punkt, den wir untersuchen müssen, ist die Beziehung des potenziellen Lehrers zu den spirituellen Mentoren, die wir bereits haben. Da die meisten Lehrer nicht in allem, was wir vielleicht lernen müssen, Experten sein können, kann das Studium mit vielen spirituellen Lehrern sehr nützlich sein. Wenn wir jedoch jemanden als spirituellen Lehrer annehmen, der mit einem unserer bisherigen Mentoren im Widerspruch liegt, erleben wir unvermeidlich einen Loyalitätskonflikt, der unseren Fortschritt gefährdet. Sogar wenn wir nur ein Buch von jemandem lesen, der einem unserer Mentoren feindlich gesonnen ist, können wir schon Verwirrung erleben. Seine Heiligkeit der Vierzehnte Dalai Lama hat die Situation bildhaft zusammengefasst. Die eigenen spirituellen Lehrer müssen harmonisch zusammenpassen und eine integrierte Arbeitseinheit bilden, wie die vielen Gesichter einer Buddha-Gestalt.

Die Qualitäten eines spirituell Suchenden

Um die positiven Qualitäten eines Lehrers erkennen zu können, müssen spirituell Suchende selbst über gewisse Merkmale verfügen. Kongtrül hat dargelegt, dass ein Schüler, der die vom indischen Meister Aryadeva in seinem Werk „Vierhundert Verse“ (über die Übungen auf dem Weg zur Erleuchtung) beschriebenen Merkmale nicht besitzt, selbst in den talentiertesten Meistern nur Fehler finden würden. Obwohl Aryadevas Text zur Sutra-Literatur gehört, sind die dort beschriebenen Qualitäten für spirituell Suchende jeder Stufe gültig, vom Anfänger bis zum tantrischen Schüler. Gesunder Menschenverstand und Erfahrung bestätigen, dass jeder, der etwas von einem anderen Menschen lernen will, diese Qualitäten braucht.

Erstens müssen Suchende offen sein, das heißt ohne stures Beharren auf ihren persönlichen Meinungen und ohne Feindseligkeit gegenüber anderen Sichtweisen. Ansonsten würden vorgefasste Meinungen und Vorurteile sie blind für die Qualitäten eines Lehrers machen. Zweitens brauchen spirituell Suchende einen gesunden Menschenverstand. Sie müssen zwischen korrekten und falschen Erklärungen unterscheiden können. Drittens brauchen Suchende ein starkes Interesse am Dharma. Wenn es für sie nicht von entscheidender Bedeutung ist, einen spirituellen Lehrer zu finden, werden sie sich nicht der Mühe unterziehen einen Kandidaten eingehend zu prüfen. Chandrakirti fügt in seinem Kommentar zu Aryadevas Text noch hinzu, dass spirituell Suchende auch Wertschätzung und Achtung für den Dharma und für qualifizierte Lehrer haben müssen, sowie einen aufmerksamen, wachen Geist.

Bevor wir also nach einem spirituellen Lehrer irgendeiner Stufe suchen, müssen wir uns selbst aufrichtig prüfen. Dabei ist es am wichtigsten unsere Motivation, unser Ziel und unsere Offenheit für das Studium mit einem Lehrer zu untersuchen. Wollen wir einfach nur Informationen von dem Menschen, oder wollen wir lernen, den Dharma in unserem Leben anzuwenden? Wollen wir emotionales Wohlbefinden für dieses Leben, eine günstige Wiedergeburt, Befreiung oder Erleuchtung? So zu tun als wären wir auf einer höheren Ebene als wir tatsächlich sind, nützt niemandem.

Darüber hinaus müssen wir auch die Stufe unserer emotionalen Reife aufrichtig bewerten. Eines der tantrischen Gelübde verlangt nämlich zum Beispiel, dass wir unter keinen Umständen unseren tantrischen Meister schlecht machen. Daher muss ein potenzieller Schüler des Tantra die Charakterstärke und emotionale Stabilität besitzen, einen klaren Kopf zu behalten, gleichgültig was unser tantrischer Meister sagt oder tut. Wenn wir mit etwas nicht übereinstimmen, müssen wir fähig sein, ruhig zu bleiben, ohne Zorn oder Beschuldigungen, und erkennen, was wir aus dieser Situation lernen können. Aus diesem Grund betonte der Kadam-Geshe Potowa, dass ein potenzieller spiritueller Schüler, mehr noch als über Intelligenz, über einen guten Charakter und ein gütiges Herz verfügen müsse. Sein Rat ist für den Aufbau einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Lehrer jeder Stufe relevant.

Formalisieren einer Schüler-Mentor-Beziehung

Haben wir einen potenziellen spirituellen Lehrer und uns selbst sorgfältig geprüft und uns entschieden, dass es der richtige für uns ist und dass wir aufnahmebereit und emotional vorbereitet sind, sind wir bereit eine formelle Schüler-Lehrer-Beziehung einzugehen. Im Falle des Studiums mit einem spirituellen Lehrer als Buddhismus-Professor, Dharma-Ausbilder oder Meditations- bzw. Ritualtrainer formalisieren wir die Beziehung einfach indem wir uns in das Lehrprogramm einschreiben. Bei der Errichtung einer Schüler-Mentor-Beziehung ist das Vorgehen komplexer.

Ein spiritueller Lehrer wird formell zu unserem spirituellen Mentor, sobald wir Zuflucht, Befreiungs-, Bodhisattva- oder tantrische Gelübde in seiner Gegenwart nehmen. Darüber hinaus muss nichts mehr ausdrücklich gesagt oder getan werden. Von jemandem die Gelübde zu nehmen, setzt aber eine entsprechende Erlaubnis seitens der Person voraus. Wenn große Lamas eine Zeremonie zur Übertragung der Bodhisattva-Gelübde oder eine tantrische Ermächtigung vor großem Publikum durchführen, haben die meisten Teilnehmer nicht die Möglichkeit vorher im Rahmen eines privaten Interviews um Erlaubnis zu bitten. Die Bitte um die Erlaubnis und das Gewähren der Erlaubnis geschieht dann in der Menge als Teil des Rituals. Wenn ein spiritueller Mentor jedoch in einem privateren Rahmen Gelübde gibt, entweder separat vom Geben einer Ermächtigung oder als Teil einer tantrischen Ermächtigung, müssen wir vorher um Erlaubnis zur Teilnahme bitten und diese auch erhalten.

Haben wir uns erst mit Gelübden dem buddhistischen Pfad verpflichtet, können wir verschiedene Themen des Sutra und Tantra auch mit anderen Lehrern studieren, die wir sorgfältig geprüft haben. Und obwohl wir vielleicht nicht sofort in ihrer Gegenwart Gelübde nehmen, werden auch diese Lehrer zu unseren spirituellen Mentoren, einfach dadurch, dass wir mit ihnen studieren. Wenn wir die Beziehung jedoch zusätzlich formalisieren möchten, können wir sie darum bitten, dass wir baldmöglichst die Bodhisattva-Gelübde oder tantrische Gelübde von ihnen nehmen zu dürfen – das kann entweder in einem öffentlichen Rahmen geschehen, als Teil einer Massenzeremonie, oder unter vier Augen, wenn das möglich sein sollte.

Erwartungen an eine Schüler-Mentor-Beziehung

Der Aufbau einer Schüler-Mentor-Beziehung zu einem Lehrer bedeutet nicht unbedingt, dass wir diesen Menschen auch privat um persönlichen Rat bitten, egal ob wir Gelübde in seiner Gegenwart genommen haben oder nicht. Außer bei einem gelegentlichen Besuch, um einen zeremoniellen Schal zur Repektbezeugung (kata, tib. kha-btags) zu überreichen oder andere kleinere Gaben darzubringen, sind viele tibetische Schüler niemals irgendeinem ihrer spirituellen Mentoren privat begegnet, außer denen, in deren Haus sie möglicherweise leben. Aus tibetischer Sicht ist es anmaßend und zeugt von einer Haltung des Eigendünkels, wenn man über die persönliche Meditationspraxis spricht, das gilt selbst in Bezug auf einen Lama, mit dem man zusammenlebt. Es vermittelt den Eindruck, dass man sich für einen großen Praktizierenden hält. Die Tibeter legen größten Wert auf Bescheidenheit, besonders wenn es um spirituelle Dinge geht.

Wenn ein Tibeter allerdings ein ernsthafter Praktizierender wäre, würde er sich natürlich an einen spirituellen Mentor wenden und Rat zur Meditation einholen. Allerdings haben Tibeter einen wesentlich höheren Standard dafür, wer sich als ernsthaft Praktizierender qualifiziert, als die meisten Menschen des Westens. Der Mentor, den man dann um Rat fragen würde, wäre gewöhnlich einer der Wurzelgurus des Meditierenden. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, dass alle spirituellen Mentoren die gleiche Rolle im spirituellen Leben des Einzelnen spielen. Ein tibetischer Meditierender würde vornehmlich erst im Anschluss an ein abgeschlossenes Retreat einen spirituellen Mentor danach befragen, welcherlei intensive Praxis von jetzt an zu üben sei. In gleicher Weise wird er vielleicht auch danach fragen, welche Texte zu lesen sind oder welche anderen Lamas er konsultieren solle, um seine Meditation zu ergänzen. Die meisten Tibeter wären zu bescheiden, um ihre Meditations-Erfahrungen vor einem großen Meister auszubreiten, es sei denn, sie würden ausdrücklich dazu von ihrem Mentor befragt.

Anders als die meisten Abendländer sind die Tibeter auch viel zu scheu, um ihre persönlichen Dinge mit anderen zu diskutieren, besonders wenn es sich um Beziehungen oder emotionale Probleme handelt. Gewöhnlich vermeiden sie es diese Dinge mit ihrem spirituellen Mentor zu besprechen. Tibeter würden einen Mentor wegen privater Dinge höchstens dann konsultieren, wenn sie ihn um eine Weissagung mit Hilfe von Würfeln (mo, tib. mo) würden bitten wollen. Gewöhnlich bitten sie dann um eine Voraussage, um zu entscheiden welche Rituale sie in Auftrag geben und sponsern sollen, um Hindernisse in Bezug auf eine Reise oder in Bezug auf geschäftliche oder gesundheitliche Probleme zu beseitigen.

Wenn ein westlicher spirituell Suchender eine Schüler-Mentor-Beziehung zu einem Lehrer aufbaut, dann erwartet er oft eine viel persönlichere Beziehung zu diesem Mentor als ein Tibeter. Das entspricht der Tatsache, dass die Individualität im Abendland betont wird, die ja ein definierendes Merkmal der westlichen Kulturen darstellt. Die asiatischen Zivilisationen legen im Gegensatz dazu mehr Wert auf die Familie, die Gruppe oder die kulturelle Identität. Auf einer erleuchteteren Ebene betonen die Asiaten die Wichtigkeit des „Hier und Jetzt“. Ich selbst habe zum Beispiel neun Jahre als Schüler mit meinem Wurzelguru, Serkong Rinpoche, gelebt und ihm als Übersetzer und Sekretär für Englisch gedient. Obwohl unsere Beziehung sehr eng war, hat Rinpoche mir in all den Jahren nicht einmal eine persönliche Frage nach meinem Hintergrund, meiner Familie oder meinem Privatleben gestellt. Ich beschreibe die Beziehung oft als „persönlich unpersönlich“. Wir befassten uns ausschließlich mit dem, was im Augenblick wichtig war.

Im Aufbau einer Schüler-Beziehung zu einem traditionellen tibetischen Mentor, muss sich ein Abendländer in die Kultur einfühlen können. Ganz besonders unpassend wäre es, einen Mönch oder eine Nonne in Bezug auf Beziehungsprobleme oder sexuelle Schwierigkeiten um Rat zu fragen. Hat man allerdings eine Beziehung zu einem westlichen spirituellen Mentor aufgebaut, kann es durchaus angemessen sein, ihn wegen privater emotionaler Probleme oder in Bezug auf die anfängliche Meditationspraxis um Rat zu fragen. Ein Mentor ist allerdings nicht mit einem Beichtvater oder einem billigen Psychiater zu verwechseln, dem wir jede Woche jede Einzelheit unseres Lebens berichten. Ein Mentor ist auch kein Wahrsager, den wir bei allen persönlichen Entscheidungen um eine Weissagung bitten. Es ist buddhistischer Brauch, dass man die Anleitung für die eigene Dharmapraxis hauptsächlich in den Lehren selbst sucht.

Ein spiritueller Mentor hilft einem Schüler dabei, ihn in die richtige Richtung zu führen. Wäre ein Mentor dazu da, all unsere Probleme für uns zu lösen, könnten wir niemals wachsen. Schließlich liegt der Sinn und Zweck einer Schüler-Mentor-Beziehung darin, spirituelle und emotionale Mündigkeit zu erlangen, indem wir unsere Unterscheidungsfähigkeit und unsere Warmherzigkeit entwickeln.

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