Die traditionelle Bedeutung eines spirituellen Schülers

Viele Menschen mögen sich für spirituelle Suchende halten und sogar mit spirituellen Lehrern an Dharma-Zentren studieren. Die am stärksten engagierte Art eines spirituellen Suchenden stellt jedoch der Schüler eines spirituellen Mentors dar. Probleme in der Beziehung zu spirituellen Lehrern entstehen häufig dadurch, dass sich ein Student übereilt für den Schüler eines bestimmten Lehrers hält – gleichgültig ob der gewählte Lehrer als Mentor qualifiziert ist oder nicht – und dann versucht, dem traditionellen Protokoll einer Schüler-Lehrer-Beziehung zu folgen. Um dieser Fehleinschätzung entgegenzuwirken, lassen Sie uns unsere Begriffsklärung fortführen und die Worte untersuchen, mit denen im Sanskrit und Tibetischen Schüler bezeichnet werden.

Die Implikationen der Sanskritbegriffe für Schüler

Die wichtigsten Sanskritbegriffe für einen buddhistischen Schüler sind shaiksha, shishya, vaineya und bhajana. Ein shaiksha ist jemand, der sich für shiksha, das Training durch einen spirituellen Mentor, anbietet. Das bedeutet insbesondere, dass er oder sie sich in den drei Arten „höheren Trainings“ übt: in der ethischen Selbstdisziplin, der Konzentration auf konstruktive Objekte und im unterscheidenden Gewahrsein der Wirklichkeit.

Sich in ethischer Selbstdisziplin zu üben, bedeutet zu lernen, nicht länger destruktiv zu handeln, zu sprechen und zu denken. Das Training beinhaltet darüber hinaus, sich in konstruktivem Verhalten und positivem Denken und Empfinden zu üben. Wie schon bei der Erklärung spiritueller Freunde und spiritueller Mentoren, bedeutet das Wort „konstruktiv“ auch hier, ein Verhalten und Denken einzuüben, das frei ist von störenden Emotionen oder Geisteshaltungen wie etwa Gier, Anhaftung, Feindseligkeit oder Naivität. Es beinhaltet weiterhin ein Vertrauen in den Nutzen positiven Verhaltens und das Bewahren eines Gefühls für Werte, das sich aus dem Respekt für positive Qualitäten im allgemeinen ergibt, wie auch aus dem Respekt für die Menschen, die diese positiven Qualitäten besitzen. In diesem Sinne üben sich die Schüler in Methoden der Selbstentwicklung, etwa der Meditation, innerhalb eines heilsamen ethischen Rahmens. Für die Schüler eines spirituellen Freundes, der dem Mahayana angehört, bedeutet „konstruktiv“ zusätzlich, dass die drei Arten höheren Trainings eindeutig auf das Erreichen der Erleuchtung gerichtet sind. Noch während sie sich darin üben Buddhas zu werden, helfen diese Schüler anderen Wesen, soviel sie nur können.

Der Begriff shishya leitet sich von derselben Wurzel wie das Wort shasana her und verweist auf die Verwirklichungen des Buddha. Durch die Art und Weise wie der Buddha war und durch sein gesprochenes Wort, das später in der Form von Sutras aufgezeichnet wurde, wies der Buddha auf seine Erleuchtung hin und lehrte Methoden, wie die Erleuchtung zu erlangen sei. Entsprechend erlernen Schüler die drei Arten höheren Trainings durch einen spirituellen Mentor, indem sie seinen Charakter und sein Verhalten beobachten und indem sie seinen Erklärungen der schriftlichen Lehren zuhören. Auf diese Weise verbinden die Schüler theoretisches Wissen und Erfahrung, um eine konstruktive Veränderung ihrer Persönlichkeit und ihres Verhaltens herbeizuführen.

Vaineya bezeichnet jemanden, der sich im vinaya übt, den Methoden der „Zähmung“. Durch das Vinaya-Training erlangen die Schüler ethische Selbstdisziplin, indem sie die buddhistischen Gelübde der Laien oder Ordinierten einhalten. Indem sie formell Gelübde ablegen, um ihre widerspenstigen Verhaltensmuster zu zähmen und sich konstruktiver zu verhalten und zu denken, beweisen die Schüler einen tiefen Grad der Verpflichtung für den Prozess der Selbstentwicklung.

Bhajana bedeutet Behälter oder Gefäß. Die Schüler dienen als Gefäß für den Erhalt und die Bewahrung der Dharma-Lehren. Im Besonderen dienen sie als Behälter für die drei Arten höheren Trainings und die Laien-Gelübden oder monastischen Gelübde. Um geeignete Gefäße sein zu können, müssen die Schüler einen bestimmten Grad an Reife erlangt haben, bevor sie eine Beziehung zu einem Mentor aufbauen. Sie müssen einen offenen Geist besitzen, um Training und Gelübde empfangen zu können, sie benötigen geistige Stabilität, um die Kontinuität des Trainings und des Einhaltens der Gelübde aufrechterhalten zu können. Und ferner müssen sie von starken psychologischen Problemen frei sein, um das Training und die Gelübde in einer reinen Form aufrechterhalten zu können.

Der Begriff chela – im Allgemeinen gebraucht für einen Hindu-Schüler, der sein Heim verlässt, um mit einem Sadhu (einem heimatlosen spirituell Praktizierenden) zu leben und zu studieren – bezeichnet jemanden, der sich in den Lumpen eines asketischen Yogis kleidet. In der tibetischen Übersetzung repa (tib. ras-pa) ist jedoch die Bedeutung „Schüler“ verloren gegangen. Stattdessen wurde das Wort zu einer Bezeichnung für einen tantrischen Yogi, der sich in den kargen Lumpen eines indischen Asketen kleidet. Ein Bespiel dafür ist Mila-Repa.

Die Tibeter übersetzten sowohl shaiksha als auch shishya als lobma (tib. slob-ma), vaineya als dülja (tib. gdul-bya) und bhajana als (tib. snod). Die tibetischen Begriffe enthalten zumeist dieselben Nuancen wie die entsprechenden Sanskritworte, fügen aber in bestimmten Fällen noch mehr Verständnisebenen hinzu. So verweist zum Beispiel die Silbe ma in lobma – wie auch in lama – auf Weisheit, ein anderes Wort für unterscheidendes Gewahrsein. Die Schüler üben sich darin, selbst unterscheiden zu können, was konstruktiv und was destruktiv ist, was Fantasie ist und was Realität ist. findet sich häufig mit chü (tib. bcud) gepaart und bezeichnet die verfeinerte Essenz von etwas. Die Schüler dienen als geeignete Gefäße für das Empfangen und Bewahren eben der verfeinerten Essenz, die ein spiritueller Mentor geben kann – den erleuchtenden Methoden zum Erlangen der Buddhaschaft.

Kurz, wenn es sich bei spirituellen Mentoren um konstruktive Personen handelt, die andere darin anleiten, sich konstruktiv zu verhalten und konstruktiv zu denken, damit sie die Erleuchtung erlangen können, dann werden diejenigen als Schüler bezeichnet, die durch Training in konstruktivem Verhalten und Denken von solchen Mentoren zur Erleuchtung geführt werden.

Was es bedeutet, getrug eines Lehrer zu sein

Getrug (tib. dge-phrug), ein weiterer tibetischer Begriff für Schüler, bestätigt die vorhergehenden Erklärungen. Ge bedeutet konstruktiv und trug bezeichnet ein Kind. Ein getrug ist ein Kind, das vom spirituellen Mentor aufgezogen wird und lernt, sich konstruktiv zu verhalten – und zwar zunächst auf der Ebene des Pfades als ein zunehmend ausgeglichener, ethischer und positiver Mensch, und schließlich auf der Ebene des Ergebnisses als ein Buddha. Kind bezieht sich nicht unbedingt auf das Alter des Schülers, sondern meint einen Minderjährigen in Bezug auf den spirituellen Pfad.

Zusätzlich zu seiner etymologischen Bedeutung hat der Begriff getrug auch noch eine andere Assoziation. Er kann sich auch auf jemanden beziehen, der von Kindesbeinen an im Haus des Lehrers lebt und auch wirtschaftlich zum Haushalt gehört. Getrugs sind oft jüngere Verwandte. Die beiden Bedeutungen des Wortes getrug überschneiden sich nicht unbedingt. Es ist möglich, dass spirituelle Schüler wirtschaftlich nicht zum Haushalt ihres Mentors gehören, und umgekehrt kann es sein, dass die Personen, die zum Haushalt gehören, wie zum Beispiel der Koch, so gut wie kein formales spirituelles Training erhalten.

Wann man beginnt, ein Schüler zu werden

Um richtig verstehen zu können, was es im buddhistischen Kontext bedeutet, ein Schüler zu sein, muss man wissen, auf welcher Stufe des spirituellen Pfades es überhaupt angebracht ist, möglicherweise ein Schüler zu werden. Obwohl die klassischen Texte darin übereinstimmen, dass auf jeder Stufe des Pfades ein Lehrer notwendig ist, beginnen spirituelle Suchende ihre Reise doch lange, bevor sie Schüler eines qualifizierten Mentors werden. Dieser Punkt hat viel Verwirrung hervorgebracht, weil Kadam-Meister, wie etwa Sangwejin, die Schüler-Lehrer-Beziehung zur „Wurzel des Pfades“ erklärten und das Thema zu Beginn ihrer Texte über den Stufenweg (tib. lam-rim) behandelten. Tsongkhapa und alle späteren Gelug-Meister folgten dann ihrem Beispiel. Die Stellung dieses Themas im Gerüst ihrer Texte bedeutet jedoch nicht, dass Suchende als ersten Schritt auf ihrem spirituellen Pfad eine Lehrer-Schüler-Beziehung eingehen müssten. Lassen Sie uns untersuchen, was diese Meister tatsächlich gemeint haben.

Tsongkhapa erklärt in seinem Text „Die Essenz der vorzüglichen Erklärung über die interpretierbaren und die letztendlichen Bedeutungen“, dass mit dem Klassifizierungssystem der drei Dharma-Zyklen (dem dreimaligen Drehen des Rades der Lehre) keine zeitliche Abfolge der Lehren beschrieben wird. Stattdessen handelt es sich um ein themenbezogenes Ordnungsschema. Das Thema des ersten Zyklus, die „Vier Edlen Wahrheiten“, dient als Grundlage für die in den weiteren Zyklen dargelegten Lehren. In vergleichbarer Weise deutet die Platzierung der Lehrer-Schüler-Beziehung als das erste Hauptthema, wie sie Sangwejin in seinem Werk „Eine ausführliche Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Weges“ vornimmt, nicht auf ihre zeitliche Position auf dem Pfad hin. Sie deutet lediglich auf die essenzielle Rolle dieser Beziehung als eine stabile Grundlage für die Entwicklung der Stufen spiritueller Motivation in ihrer vollständigsten Form hin.

In seiner Schrift „Das Tor zum Eintritt in den Dharma“, erklärt SönamTsemo, der zweite der fünf Gründer der Sakya-Schule, dass die Suchenden das Leiden in ihrem Leben erkennen und eingestehen müssen, und darüber hinaus den Wunsch entwickeln müssen, das Leiden zu überwinden, bevor sie eine Beziehung zu einem spirituellen Mentor aufbauen können. Mit anderen Worten, sie brauchen zumindest eine rudimentäre Stufe von „Entsagung“. Zusätzlich benötigen sie Kenntnisse der Lehren Buddhas darüber, was zu üben und was aufzugeben ist, um das Leiden, das sie zu überwinden trachten, auch tatsächlich reduzieren und beseitigen zu können. Erst dann sind die Suchenden in der Lage, eine ernsthafte Beziehung zu einem spirituellen Lehrer aufzubauen, der ihnen dabei hilft, ihre Ziele zu erreichen.

Spirituelle Mentoren sind jedoch Lehrer, die ihren Schülern dabei helfen, die Erleuchtung zu erlangen. Daher müssen die Suchenden, bevor sie eine Beziehung zu einem solchen Mentor eingehen können, zumindest über ein Anfangsinteresse verfügen, zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft erlangen zu wollen. Das geht aus den Schriften des indischen Meisters Atisha, dem Verfasser des Stufenweges und der Urquelle der Kadam-Tradition, klar hervor. In seinem Text „Ein Selbst-Kommentar zu den schwierigen Punkten in ‚Eine Lampe für den Pfad zur Erleuchtung’“, erwähnt Atisha die Lehrer-Schüler-Beziehung erst im Zusammenhang mit der Entwicklung von Bodhichitta. Um aber die Mahayana-Motivation von Bodhichitta überhaupt entwickeln zu können, bedarf es zumindest einer Anfangsstufe der sicheren Ausrichtung (Zuflucht) zu den Buddhas, dem Dharma und der hoch verwirklichten Sangha-Gemeinschaft.

Der Fünfte Dalai Lama spricht diese Punkte in seinem Stufenweg-Text „Persönliche Unterweisungen von Manjushri“ explizit an. Er argumentiert dort, dass es notwendig und richtig ist, eine sicheren Ausrichtung (Zufluchtnahme) und Bodhichitta zu entwickeln, bevor eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufgebaut werden kann. Dieser Argumentation folgend, änderte der Fünfte Panchen Lama in „Ein geschwinder Pfad“ die Reihenfolge aus Tsongkhapas Werk „Eine umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“. Um der tatsächlichen Abfolge der spirituellen Entwicklung gerecht zu werden, setzte er das Thema der vorbereitenden Übungen noch vor die Behandlung der Lehrer-Schüler-Beziehung. Die vorbereitenden Übungen beinhalten, dass man eine sichere Ausrichtung einschlägt und die eigene Bodhichitta-Motivation verstärkt. Auf diese Weise betrachtet, ist das Verständnis des Stufenweges gemäß der Kadam-/Gelug-Tradition mit den Kagyü- und Nyingma-Erlärungen vereinbar, die, als Abfolge der essenziellen vorbereitenden Übungen, um im Buddhismus spirituelle Fortschritte machen zu können, das Einschlagen einer sicheren Ausrichtung und die Entwicklung von Bodhichitta vorgeben, und erst dann die Entwicklung einer gesunde Lehrer-Schüler-Beziehung vorsehen.

Tsongkhapa erklärte weiter, dass jede Stufe der Selbstentwicklung ein Trittstein auf dem Stufenweg zur Erleuchtung sei. Obwohl die Suchenden also bereits das Leiden anerkennen und dem Leiden entsagen müssen, über Wissen darüber verfügen müssen, was aufzugeben und was zu üben ist, eine sichere Ausrichtung eingeschlagen haben müssen und über Bodhichitta verfügen müssen, um überhaupt spirituelle Schüler werden zu können, so benötigen sie diese fünf Faktoren zu Anfang jedoch nur in Form einer vagen spirituellen Orientierung. Die anfängliche Intensität, in der die fünf Faktoren bei einem spirituellen Suchenden vorhanden sind, dient lediglich als Eingangstor für die weitere Entwicklung – jetzt als Schüler eines spirituellen Mentors – und stellt keinesfalls das Endstadium der Entwicklung dieser Faktoren dar. Eine sichere Ausrichtung und Bodhichitta zu besitzen heißt, dass man nach Befreiung und schließlich nach Erleuchtung strebt. Diese beiden Faktoren jedoch lediglich auf der Stufe spiritueller Orientierung zu besitzen, heißt allerdings noch lange nicht, dass man auf der Bauchebene alle Implikationen, die mit dem Erlangen dieser Ziele verbunden sind, ganz und gar verstanden und akzeptiert haben muss.

Die Unumgänglichkeit, das Konzept der Wiedergeburt richtig zu verstehen und die Notwendigkeit von der Realität der Wiedergeburt überzeugt zu sein, um aufrichtig nach Befreiung und Erleuchtung streben zu können

Das Streben nach der Befreiung und der Erleuchtung, verbunden mit einem vollständigen Verständnis und einer umfassenden emotionalen Akzeptanz dessen, was diese Zielsetzungen implizieren, kann erst dann erfolgen, wenn die buddhistischen Erklärungen der Wiedergeburt vollständig verstanden und auch gefühlsmäßig durch und durch akzeptiert worden sind. Das Konzept der Wiedergeburt im Buddhismus impliziert nicht die Existenz einer dauerhaften Seele, die in ein ewiges Nachleben eingeht oder von einer Inkarnation zu nächsten wandert und die dort schrittweise mit Lektionen konfrontiert wird, die ihr aufgegeben werden, um etwas zu lernen. Das buddhistische Verständnis geht stattdessen von einer unendlichen Kontinuität individueller Erfahrung aus, allerdings ohne eine von Körper und Geist getrennte unveränderliche, singuläre Wesenhaftigkeit, die wirklich das „Ich“ darstellt und sich von Leben zu Leben fortsetzt. Die Kontinuität setzt sich von einem Leben zum nächsten fort, wobei sie entweder durch störende Emotionen und Geisteshaltungen, wie auch durch zwingende Impulse (Skt. karma) unkontrollierbar angetrieben wird, oder aber durch die Kraft des Mitgefühls bewusst ausgerichtet wird. Die buddhistische Erläuterung dieses Sachverhalts ist sehr durchdacht und überaus schwer zu verstehen.

Befreiung bedeutet Freiheit vom Leid sich unkontrollierbar wiederholender Wiedergeburten (Skt. samsara) und seiner Ursachen, wohingegen die Erleuchtung einem zusätzlich die Fähigkeit verleiht, anderen zu helfen, ebenfalls Freiheit zu erlangen. Wie können Schüler ernsthaft nach Befreiung von unkontrollierbarer Wiedergeburt streben, ohne wirklich zu verstehen, was Wiedergeburt im Buddhismus eigentlich bedeutet und ohne die Überzeugung zu haben, dass sie diese seit anfangsloser Zeit unkontrolliert durchlebt haben und auch in Zukunft weiter erfahren werden, wenn sie nicht etwas dagegen unternehmen? Wie können sie nach Erleuchtung streben, ohne die Gewissheit zu besitzen, dass alle anderen Wesen ebenfalls die Leiden von Samsara erleben?

Die Unumgänglichkeit, dass ein Schüler Wiedergeburt einwandfrei versteht und davon überzeugt ist, dass es sie gibt, um auch nur die erste Stufe spiritueller Entwicklung erlangen zu können

Ein richtiges Verständnis der buddhistischen Erläuterung der Wiedergeburt und eine entsprechende Überzeugung in die Realität der Wiedergeburt sind notwendig, um auch nur die erste Stufe spiritueller Entwicklung erreichen zu können, wenn man sich erst einmal auf eine Lehrer-Schüler-Beziehung eingelassen hat. Atisha identifiziert in seinem Werk: „Eine Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ drei unterscheidbare Stufen der Selbstentwicklung, die Schüler auf dem Stufenweg zur Erleuchtung durchlaufen. Die erste Stufe erreicht der Schüler, sobald er auf günstige Wiedergeburten abzielt, um die Leiden ungünstiger Wiedergeburten zu vermeiden. Selbstverständlich wird ein Schüler nur dann nach günstigen Wiedergeburten streben, wenn er von der Existenz zukünftiger Leben nach dem Tode überzeugt ist. Die zweite Stufe erreicht der Schüler, sobald er nach der Befreiung von allen unkontrollierten Wiedergeburten – seien es ungünstige oder günstige – insgesamt strebt. Auf der dritten Stufe schließlich ist sein Ziel die Erleuchtung.

Der spirituelle Kontext für das anfängliche Ziel buddhistischer Schüler unterscheidet sich stark von dem anderer Religionen, deren Anhänger darum beten, nach dem Tod in den Himmel zu kommen und für alle Ewigkeit dort zu verweilen. Um über dieses Leben hinaus an Befreiung und Erleuchtung zu arbeiten, müssen Wiedergeburten erlangt werden, deren Umstände und Bedingung eine spirituelle Praxis begünstigen. Das Erlangen günstiger Wiedergeburten ist für den buddhistischen Schüler also nur ein vorläufiges und niemals das letzte Ziel.

Alle späteren tibetischen Formulierungen der Stufen des Pfades stimmen mit Atisha bezüglich der ersten Stufe innerer Entwicklung überein. Sachen, der älteste der fünf Gründer der Sakya-Tradition, veröffentlichte die Offenbarungen, die er von Manjushri erhalten hatte, in seinem Werk „Sich von den vier Anhaftungen lösen“. Nach der sich dort findenden Formulierung, hat die erste Stufe der spirituellen Entwicklung zur Folge, dass man sich von der Anhaftung an den Wunsch danach löst, Nützliches für dieses Leben zu erstreben. Die vier Themen des Gampopa, dem Vater der zwölf Überlieferungslinien der Dagpo-Kagyü-Tradition, unterstreichen diese Sichtweise. Das erste Thema, den Geist dem Dharma zuzuwenden, erfordert ebenfalls eine Verschiebung des Hauptinteresses vom gegenwärtigen auf künftige Leben. Die Übereinstimmung ist eindeutig.

Welchen Stellenwert es für den Beginn einer Lehrer-Schüler-Beziehung hat, von Wiedergeburt überzeugt zu sein

Obwohl ein richtiges buddhistisches Verständnis der Wiedergeburten und ein Überzeugtsein von ihrer Existenz selbst für das Erreichen der Anfangsstufe des Stufenwegs zur Erleuchtung unverzichtbar ist, bleibt doch die Frage offen, inwieweit eine solche Überzeugung auch eine Grundvoraussetzung für das Eintreten in eine spirituelle Mentor-Schüler-Beziehung darstellt. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Überzeugung traditionell vorausgesetzt wird, würde ich sagen, dass ein intellektuelles Verständnis, Offenheit für die Idee der Wiedergeburt und ihre vorläufige Akzeptanz durchaus ausreichen. Da der Stellenwert, den es im westlichen Buddhismus hat, von Wiedergeburt überzeugt zu sein, sicher umstritten ist, wollen wir die Begründungen für diese Behauptung nun näher untersuchen.

Nach der Darstellung des Stufenweges beginnt der Schüler mit dem Training der grundlegenden Lehren, während er sich immer noch besessen um sein materielles Wohlergehen, sein emotionales Glück und seine zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Leben sorgt. Durch wiederholte Meditation über die Seltenheit, ein menschliches Leben zu erlangen, sowie über Tod und Vergänglichkeit, überwindet er diese besessene Sorge schließlich. Sobald er hauptsächlich daran interessiert ist, Wohlergehen, Glück und positive Beziehungen in zukünftigen Leben zu erlangen – allerdings nur als vorläufiges Ziel auf dem Weg zur Befreiung und Erleuchtung – erreicht der Schüler die erste Stufe spiritueller Entwicklung.

Wenn spirituell Suchende das Konzept der Wiedergeburt nicht akzeptieren müssten, um Schüler zu werden, sondern als Teil ihres Trainings, um die erste Stufe der spirituellen Entwicklung zu erlangen, von Wiedergeburt überzeugt sein müssten, dann würden Erklärungen und Beweise für die Tatsache vergangener und zukünftiger Leben in den Stufenweg-Texten zu finden sein. Diese Erklärungen müssten der Logik zu Folge nach der Besprechung des Themas Tod und Vergänglichkeit und vor der Präsentation von Karma zu finden sein. Da dieser Stoff an dieser Stelle aber nicht zu finden ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Leserschaft, für die diese Texte bestimmt waren, um spirituell Suchende gehandelt hat, die bereits fest in der traditionellen tibetischen Weltsicht verwurzelt waren, die an dieser Stelle keinen Bedarf an Erläuterungen hatten. Nur fortgeschrittene Fachbücher über Logik enthalten Erklärungen und Beweise der Wiedergeburt und zwar nur zum Zwecke der Widerlegung obskurer Glaubensinhalte alter indischer Vertreter des Materialismus.

Die meisten Tibeter akzeptieren Wiedergeburt als Realität, auch wenn ihr Verständnis davon recht vage bleibt. Wenn zum Beispiel ein Verwandter gestorben ist, erbitten die Tibeter regelmäßig Gebete und Rituale, die dem Verstorbenen helfen sollen, eine günstige Wiedergeburt zu erlangen. Abendländer, die eine Beziehung zu einem spirituellen Lehrer suchen, teilen typischerweise nur recht wenige Annahmen, die in den klassischen buddhistischen Texten gemacht werden. Ungeachtet der biblischen Lehre von Himmel und Hölle, stellen die meisten Abendländer die Existenz eines „Lebens danach“ in Frage. Und selbst wenn sie an Wiedergeburt glauben, verstehen sie das Phänomen häufig in der Art und Weise wie es in Hindu- oder New-Age-Texten erklärt wird – eine Sichtweise, die sich signifikant von der buddhistischen unterscheidet. Daher benötigen die Abendländer die richtige buddhistische Erklärung des Konzeptes der Wiedergeburt und müssen sich von ihrer Gültigkeit überzeugen, bevor sie überhaupt die erste Ebene des Stufenweges erreichen können. Da sich aber bei den meisten Abendländern die Überzeugung von der Wiedergeburt in Stufen entwickelt, stellt sich die Frage, an welcher Stelle des spirituellen Pfades die Auseinandersetzung mit der Existenz von Wiedergeburt, wie sie im Buddhismus verstanden wird, logischerweise beginnen muss.

In Bezug auf Entsagung, sichere Ausrichtung und Bodhichitta benötigen Suchende zunächst eine anfängliche Sprungbrett-Ebene dieser drei grundlegenden Geisteshaltungen zu ihrer allgemeinen spirituellen Orientierung, bevor sie sich auf eine Mentor-Schüler-Beziehung einlassen. Nachdem sie eine Beziehung zu einem Lehrer aufgebaut haben, entwickeln sie die entsprechenden Geisteshaltungen im Laufe ihres Trainings dann immer vollständiger. Ein richtiges Verständnis der Erklärung der Wiedergeburt und die entsprechende Überzeugung in diese Erklärung gelten im Buddhismus ebenfalls als grundlegend für eine spirituelle Orientierung. Aus diesem Grunde scheint es vernünftig zu sein, mit Nachdruck zu erklären, dass potenzielle Schüler, bevor sie sich dem buddhistischen Pfad aufrichtig widmen können, zumindest ein intellektuelles Verständnis der buddhistischen Erklärung der Wiedergeburt benötigen. Zudem ist es notwendig, dass die Schüler Wiedergeburt als eine Wirklichkeit akzeptieren oder zumindest eine offene Haltung für die Möglichkeit ihrer Existenz besitzen. Durch weiteres Studium und Nachdenken über die logischen und dokumentierten Beweise der Wiedergeburt, stellt sich dann später, noch bevor die erste Stufe spiritueller Entwicklung erreicht wird, eine wirkliche Überzeugung ein.

Der Aufbau einer Beziehung zwischen Mentor und Schüler, während man noch spirituelle Ziele verfolgt, die entweder nur auf das gegenwärtigen Leben oder auch auf zukünftige Generationen ausgerichtet sind

Eine weitere wichtige Frage lautet, inwieweit es für westliche Suchende notwendig ist, als Anfangsmotivation ein Streben nach glücklichen Wiedergeburten zu entwickeln, selbst wenn sie die Existenz von Wiedergeburt nur vorläufig akzeptieren. Ich würde sagen, dass es nicht unbedingt notwendig ist. Sönam-Tsemo legte dar, dass es als Voraussetzung für die Schülerschaft ausreiche, lediglich einen gewissen Grad an Leiden im eigenen Leben klar zu erkennen und die Entschlossenheit zu besitzen, von diesem Leiden frei sein zu wollen. Über den Umfang des Leidens, das man erkennen muss, hat er nichts weiter gesagt.

In seinem Werk „Die drei Hauptaspekte des Pfades“, unterscheidet Tsongkhapa zwei Ebenen der Entsagung, abhängig davon, in welchem Umfang das Leiden vorhanden ist, von dem man frei zu werden wünscht. Der Vorlage von Sachens Text „Sich von den vier Stufen der Anhaftungen lösen“ folgend, formuliert Tsongkhapa die zwei Ebenen im Hinblick darauf, dass man sich erstens von Gedanken abwendet, die lediglich auf dieses Leben gerichtet sind und zweitens, dass man sich von Gedanken abwendet, die bloß auf zukünftige Leben gerichtet sind. Wenn Schüler sich durch fortschreitende Stufen der Entsagung weiterentwickeln, kann man vernünftigerweise behaupten, dass sie sich innerhalb spezifischer Stufen ebenfalls schrittweise entwickeln.

Die meisten Suchenden des Westens kennen die Probleme, die sich aus der Sucht nach augenblicklicher Erfüllung materieller und emotionaler Begierden ergeben. Wenn sie diesem Leiden dann entsagen und sich dem buddhistischen Pfad zuwenden, sind sie anfangs vielleicht vor allem daran interessiert, sich für ökologisch vertretbaren materiellen Wohlstand, emotionales Wohlergehen und gute Beziehungen in der Zukunft einzusetzen. Diese Zukunft mag ihr eigenes zukünftiges Leben beinhalten, oder, bei erweitertem Horizont, die Leben zukünftiger Generationen einbeziehen. Da westliche Suchende aber meist lediglich über ein intellektuelles Verständnis und eine vorläufige Akzeptanz der Wiedergeburt verfügen, ist das Arbeiten für das Glück in zukünftigen Leben – wenn sie ihre Ziele nicht schon vor ihrem Tod erreichen – für sie keine realistische Option.

Wenn die westlichen Suchenden gleichermaßen dem Leiden entsagen, dass aus der Sucht nach sofortiger Erfüllung von Begierden entsteht, sind sie möglicherweise sogar bereit dazu, sich voll und ganz dem Streben nach Befreiung und Erleuchtung zu widmen. Solange sie jedoch keine feste Überzeugung von Wiedergeburt – wie sie im Buddhismus verstanden wird – erlangen, können sie ehrlicherweise nur nach Befreiung und Erleuchtung im gegenwärtigen und nicht in zukünftigen Leben streben.

Ich bin der Meinung, dass es ausreicht, dass Leiden aufzugeben, das aus der Sucht nach sofortiger Erfüllung der Begierden resultiert, um in eine buddhistische Lehrer-Schüler-Beziehung eintreten zu können. Weiter möchte ich behaupten, dass ein vorläufiges Streben nach Glück zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Leben, ein Streben nach Glück für zukünftige Generationen oder das Streben nach Befreiung und Erleuchtung im gegenwärtigen Leben, eine ausreichende Motivation darstellt, bis man eine feste Überzeugung von späteren Leben, wie sie der Buddhismus erklärt, erlangt. Darüber hinaus möchte ich behaupten, dass es für die meisten westlichen Schüler pragmatischer Weise unumgänglich ist, diese vorläufigen Zielen anzustreben, nämlich als Vorbereitung, um sich den klassischen Stufenweg zugänglich zu machen. Bestimmte Bedingungen sind dabei allerdings erforderlich.

Die Bedingungen, die notwendig sind, damit ein Anfänger zeitweilig nach nicht-traditionellen Zielen streben kann

Indem er sich zerstörerischen Verhaltens und störender Emotionen enthält, kann ein Schüler zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben durchaus Wohlergehen, Glück und gute Beziehungen erfahren; allerdings gibt es keine Garantie dafür. Viele zusätzliche Faktoren können das Geschehen beeinflussen, etwa, dass er bei einem Autounfall ums Leben kommt, bevor er die Früchte seiner Bemühungen ernten kann. Ebenso wenig kann es Gewissheit darüber geben, dass zukünftige Generationen als Ergebnis seiner konstruktiven Schritte, Glück erfahren werden. Viel hängt vom Verhalten und den Einstellungen der zukünftigen Generationen selbst ab. Während er also danach strebt Schwierigkeiten für sein späteres Leben und für zukünftige Generationen zu beseitigen, muss der Anfängerschüler zu einer Einsicht gelangen, dass es tatsächlich unmöglich ist, innerhalb dieses begrenzten Rahmens sämtliche Probleme zu beseitigen. Das Beste, auf das er hoffen kann, ist eine gewisse Verbesserung.

Indem er sämtliche störenden Emotionen und Geisteshaltungen beseitigt, kann der Schüler im gegenwärtigen Leben Erleuchtung erlangen; indem er zusätzlich auch noch die Instinkte auslöscht, kann er sogar Erleuchtung erlangen. Da jedoch diese Ziele überaus schwer zu erreichen sind, ist es eher unwahrscheinlich, dass er sie im gegenwärtigen Leben verwirklichen kann. Während er also nach Befreiung und Erleuchtung im gegenwärtigen Leben strebt, muss der Schüler verstehen und akzeptieren, dass es ihm vor seinem Tod wahrscheinlich nur gelingen wird, einige Schritte in diese Richtung zu machen.

Kurz, solange ein Anfängerschüler zukünftige Leben, wie sie der Buddhismus erklärt, versteht und vorläufig akzeptiert und bei seinem Streben unrealistische Erwartungen auf Erfolg vermeidet, bin ich der Ansicht, dass er vernünftigerweise nach spirituellen Zielen im gegenwärtigen Leben oder auch für zukünftige Generationen streben kann. Allerdings müsste er diese Ziele als bloße Trittsteine bis zur Entwicklung einer sicheren Überzeugung von der buddhistischen Sichtweise der Wiedergeburt betrachten. Nur mit dieser festen Überzeugung kann ein Schüler dann tatsächlich die fortschreitenden Stufen der Motivation verwirklichen, wie sie in den traditionellen Texten beschrieben werden.

Nun könnte man einwenden, dass die Befürwortung dieser vorläufigen Ziele, die logische Folgerichtigkeit des Stufenweges verletzt. Nach der klassischen Darstellung des Stufenweges ist jedoch eine der voraussetzenden Ursachen für das Einschlagen einer sicheren Ausrichtung, die Furcht davor, Leiden in ungünstigen Wiedergeburten zu erfahren. Wenn also potenzielle Schüler die spirituelle Orientierung der sicheren Ausrichtung benötigen, und die westlichen Schüler ungünstige Wiedergeburten gewöhnlich nicht wirklich fürchten, weil sie von deren Existenz nicht überzeugt sind, wie kann dann die sichere Ausrichtung ihre spirituelle Orientierung sein? Ich möchte behaupten, dass die Furcht davor, sich verschlimmernde emotionale Probleme im jetzigen Leben zu erfahren oder dass sich die emotionalen Probleme zukünftiger Generationen verschärfen, sehr wohl als Ausgangsbasis für einen einstweiligen Ansporn dienen kann, bis man die vorgeschriebene Motivation entwickelt hat. Beide Ebenen können allerdings nur unter der Voraussetzung als vorläufige Motivation dienen, dass der Suchende ein korrektes intellektuelles Verständnis von Wiedergeburt gemäß den Erklärungen des Buddhismus besitzt, und über eine vorläufige Akzeptanz ihrer Existenz verfügt.

Der Unterschied zwischen der spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehung und der Beziehung zwischen Klient und Therapeut

Nehmen wir an, ein Mensch möchte für den Rest seines Lebens emotionales Glück und gute zwischenmenschliche Beziehungen erreichen. Wird dieser Mensch, um dieses Ziel zu erreichen, nun Schüler eines spirituellen Mentors, dann würde das in vielerlei Hinsicht einer Beziehung zwischen Klient und Therapeut ähneln. Beide Beziehungen beruhen auf dem Wunsch, das Leiden im eigenen Leben zu erkennen und zu lindern. Beide Beziehungen beinhalten die Zusammenarbeit mit einem anderen Menschen, um die eigenen Probleme und ihre Ursachen zu erkennen und zu verstehen. Viele Therapieformen stimmen tatsächlich mit dem Buddhismus darin überein, dass Verständnis der Schlüssel zur Selbst-Transformation ist.

Zudem gibt es sowohl im Buddhismus als auch in den therapeutischen Systemen Denkmodelle, die das tiefe Verstehen der Ursachen der Probleme betonen. Beide Ansätze besitzen auch Traditionen, die zur Überwindung dieser Faktoren die Arbeit mit pragmatischen Methoden befürworten, und Systeme, die eine ausgeglichene Kombination beider Ansätze empfehlen. Zusätzlich sehen sowohl der Buddhismus als auch viele Therapieformen im Aufbau einer gesunden emotionalen Beziehung zu dem Mentor oder dem Therapeuten einen wesentlichen Teil des Prozesses der Selbstentwicklung. Und obwohl die meisten klassischen Therapieformen davor zurückschrecken, das Verhalten des Klienten oder seine Art zu denken im Sinne ethischer Richtlinien zu beeinflussen, befürworten doch einige postklassische Therapieschulen ethische Richtlinien, die denen des Buddhismus erstaunlich ähnlich sind. Derartige Richtlinien betonen, dass man sich gleichermaßen fair gegenüber allen Mitgliedern einer dysfunktionalen Familie verhält und dass man destruktive Impulse wie Zorn und dergleichen nicht ausagiert.

Ungeachtet dieser offensichtlichen Übereinstimmungen gibt es doch zumindest fünf signifikante Unterschiede zwischen einer spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehung und der Beziehung zwischen Klient und Therapeut. Der erste Unterschied betrifft den emotionalen Zustand, aus dem heraus man die Beziehung herstellt. Potenzielle Klienten konsultieren einen Therapeuten traditionell dann, wenn sie emotional gestört sind. Vielleicht leiden sie gar unter einer Psychose und benötigen zuerst einmal eine medikamentöse Behandlung, bevor es weitergehen kann. Im Gegensatz hierzu ist der Aufbau einer Lehrer-Schüler-Beziehung für spirituelle Schüler nicht der erste Schritt auf dem spirituellen Pfad. Sie haben schon viel früher damit begonnen, sich mit den Lehren des Buddha zu befassen und an sich selbst zu arbeiten. Als Ergebnis haben sie ein ausreichendes Maß an emotionaler Reife und Stabilität erlangt, so dass die Lehrer-Schüler-Beziehung, die sie nun aufbauen, im buddhistischen Sinne des Wortes konstruktiv wirken kann. Mit anderen Worten, buddhistische Schüler müssen bereits relativ frei von neurotischen Einstellungen und entsprechendem Verhalten sein.

Der zweite Unterschied betrifft die Interaktion, die man in der Beziehung erwartet. Potenzielle Klienten sind hauptsächlich daran interessiert, dass ihnen jemand zuhört. Daher erwarten sie, dass der Therapeut ihnen und ihren persönlichen Problemen konzentrierte Aufmerksamkeit widmet, selbst im Rahmen einer Gruppentherapie. Spirituelle Schüler hingegen teilen persönliche Probleme gewöhnlich nicht mit ihrem Lehrer und ebenso wenig erwarten oder fordern sie gar individuelle Aufmerksamkeit. Selbst wenn sie ihren Mentor um persönlichen Rat bitten, so doch keinesfalls regelmäßig. Im Mittelpunkt der Beziehung steht das Hören der Lehren. Buddhistische Schüler lernen von ihren Mentoren in erster Linie Methoden zur Überwindung allgemeiner Probleme, mit denen alle Menschen konfrontiert sind. Dann übernehmen sie selbst die persönliche Verantwortung dafür, diese Methoden auf ihre spezifische Situation anzuwenden.

Der dritte Unterschied betrifft die Ergebnisse, die von der Arbeitsbeziehung erwartet werden. Die Therapie zielt darauf ab, dass man lernt, die Probleme im Leben zu akzeptieren und mit ihnen zu leben, oder sie soweit zu minimieren, dass sie erträglich werden. Wenn man lediglich mit der Absicht auf einen buddhistischen spirituellen Mentor zugeht, das emotionale Wohlergehen im jetzigen Leben zu erhöhen, könnte man vielleicht auch erwarten, dass die eigenen Probleme abnehmen. Abgesehen davon, dass das Leben ohnehin schwierig ist – wie es die erste Tatsache des Lebens (die erste edle Wahrheit) besagt, die der Buddha lehrte – könnte man das Leben vielleicht auch weniger schwierig gestalten.

Wie schon früher gesagt, kann es für den Eintritt in den klassischen buddhistischen Pfad nur eine vorläufige Motivation sein, das eigene Leben emotional weniger schwierig gestalten zu wollen. Die Schüler spiritueller Mentoren wären zumindest auf die längerfristigen Ziele hin ausgerichtet, dass heißt auf das Erreichen einer günstigen Wiedergeburt, das Erreichen der Befreiung und das Erlangen der Erleuchtung. Außerdem würden buddhistische Schüler über ein intellektuelles Verständnis der Wiedergeburt nach buddhistischer Sicht verfügen und ihrer Existenz zumindest vorläufig annehmen. Für die Klienten der Therapie besteht keinerlei Notwendigkeit, sich über Wiedergeburt oder über Ziele jenseits der Verbesserung ihrer derzeitigen Situation den Kopf zu zerbrechen.

Der vierte Hauptunterschied ist der Grad von Verpflichtung zur Selbst-Transformation. Klienten von Therapeuten bezahlen einen Stundensatz, verpflichten sich aber nicht zu einer lebenslangen Veränderung ihrer Einstellungen und ihres Verhaltens. Buddhistische Schüler hingegen, ob sie nun für die Unterweisung zahlen oder nicht, ändern ausdrücklich die Richtung ihres Lebens. Indem sie eine sichere Ausrichtung einschlagen, verpflichten sich die Schüler dem Weg der Selbstentwicklung zu folgen, den die Buddhas bis um Ende beschritten und dann gelehrt haben, und dem die hoch verwirklichte spirituelle Gemeinschaft zu folgen sucht.

Darüber hinaus verpflichten buddhistische Schüler sich zu einer ethischen, konstruktiven Art des Handelns, Redens und Denkens im Leben. Sie versuchen, soweit es nur möglich ist, destruktive Verhaltensmuster zu vermeiden und sich stattdessen in konstruktiven zu üben. Wenn Schüler aufrichtig Befreiung von den wiederkehrenden Problemen unkontrollierter Wiedergeburt wünschen, gehen sie sogar eine noch striktere Verpflichtung ein, indem sie formell die Laien- bzw. Mönchs- oder Nonnengelübde für die individuelle Befreiung (Skt. pratimoksha Gelübde) nehmen. Schüler auf dieser Stufe der Selbstentwicklung geloben, lebenslang ununterbrochen bestimmte Verhaltensarten zu unterlassen, die entweder von Natur aus destruktiv sind oder von denen der Buddha bestimmten Menschen aus speziellen Gründen abgeraten hat. Ein Beispiel für letztere Verpflichtung ist das Versprechen Ordinierter, ihre Laienkleidung abzulegen und stattdessen Roben zu tragen, um ihre Anhaftung zu vermindern. Selbst Schüler, die danach streben, entweder ungünstige Wiedergeburten zu vermeiden oder die emotionalen Schwierigkeiten im gegenwärtigen Leben oder für zukünftige Generationen zu verringern, können auf jeder dieser drei Motivationsebenen die Befreiungsgelübde nehmen, bevor sie die vorgeschriebene Motivation entwickelt haben.

Klienten von Therapeuten stimmen, als Teil ihres therapeutischen Vertrages, ebenfalls bestimmten Vorgehensregeln zu, wie etwa sich an Sitzungen von fünfzig Minuten zu halten. Diese Regeln gelten allerdings nur für die Zeit der Behandlung. Sie haben außerhalb des therapeutischen Rahmens keinerlei Bedeutung. Die Regeln beinhalten nicht, Handlungen zu unterlassen, die von Natur aus destruktiv sind, und die Regeln gelten auch nicht lebenslang.

Der fünfte Hauptunterschied zwischen spirituellen Schülern und Klienten in einer Therapie betrifft die Haltung gegenüber dem Lehrer bzw. dem Therapeuten. Spirituelle Schüler sehen in ihrem Mentor ein lebendiges Beispiel für das, was sie selbst erreichen wollen. Ihre Sicht gründet sich darauf, die guten Qualitäten des Lehrers korrekt zu erkennen. Sie behalten diese Sichtweise bei und verstärken diese Sichtweise auf allen Stufen ihres Pfades zur Erleuchtung. Klienten andererseits mögen in ihrem Therapeuten ein Vorbild für emotionale Gesundheit sehen, dafür ist es jedoch nicht notwendig, dass sie die guten Qualitäten des Therapeuten richtig erkennen. Es ist nicht Ziel der Beziehung, so zu werden wie der Therapeut. Im Verlauf der Behandlung führen Therapeuten ihre Klienten über die Projektion von Idealen hinaus.

Der Unangemessene Gebrauch des Begriffes Schüler

Manchmal bezeichnen sich Menschen als Schüler eines spirituellen Lehrers, trotz der Tatsache, dass entweder der Schüler oder der Lehrer oder beide zusammen, der korrekten Bedeutung dieser Begriffe überhaupt nicht gerecht werden. Ihre Naivität verwickelt sie häufig in unrealistische Erwartungen, Missverständnisse, verletzte Gefühle, ja sogar Missbrauch. Missbraucht zu werden bedeutet in diesem Zusammenhang sexuell, emotional oder finanziell ausgebeutet oder von jemandem im Rahmen eines Machtspiels manipuliert zu werden. Lassen Sie uns in unserem Bemühen einer Begriffsklärung, drei Arten von Pseudo-Schülern untersuchen, die heutzutage im Westen anzutreffen sind, und die sich besonders anfällig für die Probleme mit spirituellen Lehrern zeigen.

Manche Menschen kommen in Dharma-Zentren, um dort die Erfüllung ihrer Fantasien zu finden. Sie haben etwas über den „geheimnisvollen Osten“ oder Superstar-Gurus gehört oder gelesen und möchten nun ihr scheinbar uninteressantes Leben durch eine exotische oder mystische Erfahrung bereichern. Sie begegnen spirituellen Lehrern und erklären sich augenblicklich zu deren Schülern, besonders wenn die Lehrer Asiaten sind und noch eher, wenn sie Roben tragen. Sie neigen zu einem ähnlichen Verhalten gegenüber westlichen Lehrern, mit asiatischen Namen oder Titeln, egal ob diese Lehrer Roben tragen oder nicht.

Die ständige Suche nach dem Okkulten wirkt auf die Beziehungen, die diese Suchenden zu spirituellen Lehrern aufbauen, oft destabilisierend. Selbst wenn sie sich zu Schülern eines korrekt qualifizierten Mentors erklären, verlassen sie ihren Lehrer häufig, sobald sie erkennen, dass, außer in ihrer Einbildung, nichts Übernatürliches im Spiel ist. Die unrealistischen Haltungen und hohen Erwartungen dieser „Instant-Schüler“ verdunkeln darüber hinaus häufig ihre Kritikfähigkeit. Solche Menschen sind für Täuschungen durch spirituelle Scharlatane, die geschickt eine gute Schau abziehen können, besonders offen.

Andere suchen Dharma-Zentren auf, weil sie verzweifelt Hilfe suchen, um ihre psychischen oder physischen Leiden zu überwinden. Sie haben, meist vergeblich, bereits verschiedene Therapien ausprobiert. Jetzt erwarten sie eine Wunderheilung von einem Magier/Heiler. Sie erklären sich zu Schülern von jedem, der ihnen eine gesegnete Pille, ein besonderes Gebet oder Mantra oder eine machtvolle Praxis – etwa einhunderttausend Niederwerfungen – gibt, die ihre Probleme automatisch „reparieren“ werden. Sie wenden sich meist derselben Art von Lehrern zu, die auch die Suchenden nach dem Okkulten fasziniert. Die Reparier mentalität der Wundersucher führt häufig zu Enttäuschung und Verzweiflung, wenn die Befolgung des Rates selbst qualifizierter Mentoren nicht zu sofortigen Wunderheilungen führt. Diese Reparier mentalität zieht den Missbrauch durch spirituelle Quacksalber magisch an.

Wieder andere, besonders desillusionierte, arbeitslose Jungendliche, kommen zu Dharma-Zentren kultischer Sekten in der Hoffnung dort Lebenssinn und Selbstbestätigung auf existentieller Ebenen zu finden. Charismatische Größenwahnsinnige ziehen diese Menschen dadurch an, dass sie „spirituell faschistische“ Mittel einsetzen. Sie versprechen ihren sogenannten Schülern zahlenmäßigen Zuwachs der Gruppe, wenn sie ihrer Sekte völlige Loyalität entgegenbringen. Zudem verführen sie die Schüler mit dramatischen Beschreibungen grimmiger Beschützer, die ihre Feinde zerschmettern werden, besonders die Anhänger vermeintlich minderwertiger, unreiner buddhistischer Traditionen. Mit grandiosen Geschichten über die übermenschlichen Kräfte der Gründungsväter ihrer Bewegung, versuchen sie die Träume ihrer Schüler von einem allmächtigen Führer zu erfüllen, der sie auf die Höhen spiritueller Würden erheben wird. In Reaktion auf diese Versprechen erklären sich entsprechend leicht beeinflussbare Menschen schnell zu Schülern und befolgen blind alle Anweisungen oder Befehle, die ihre autoritären Lehrer ihnen geben. Die Folgen sind gewöhnlicherweise katastrophal.

Die realistische Haltung eines authentischen Schülers

Authentische Schülerinnen und Schüler sind relativ erwachsene und nüchterne spirituell Suchende, die unter Anleitung ihres Mentors ethische Disziplin, Konzentration und Gewahrsein trainieren. Anfangs möchten sie die Qualität des gegenwärtigen Lebens verbessern. Gleichzeitig arbeiten sie daran, eine Überzeugung von Wiedergeburt nach buddhistischer Sicht zu entwickeln, um dann nach günstigen Wiedergeburten, Befreiung und letztlich Erleuchtung zu streben. Sie erwarten von ihrem spirituellen Mentor keinerlei okkulte Phänomene, Wunderheilungen oder Selbstbestätigung auf existentieller Ebene. Um die eigentliche Bedeutung des Begriffs Schüler erfüllen zu können, müssen spirituell Suchende also über realistische Einstellungen verfügen. Solche Einstellungen entspringen einem angemessenen Verständnis der aufeinander aufbauenden Ziele, die sie durch ihr Training erreichen können. Daher achten authentische Schüler auf jeder Ebene des Stufenweges sorgfältig darauf, weder zuviel noch zuwenig zu anzustreben.

Auf der vorbereitenden Ebene vermeiden authentische Schüler es, im Streben nach ökologisch vertretbarem materiellen Wohlstand, emotionalem Glück und guten Beziehungen im gegenwärtigen Leben, letztendliche Ziele ihres spirituellen Weges zu sehen. Zudem erwarten diese Schüler auch nicht, dass sie durch solche Zielsetzungen dem Erfahren weiterer Probleme im gegenwärtigen Leben entgehen können.

Auf der anfänglichen Ebene vermeiden authentische Schüler es, günstige Wiedergeburten anzustreben, wenn diese lediglich als Ausrede dafür verwendet werden, die emotionalen Probleme im gegenwärtigen Leben zu ignorieren. Darüberhinaus sehen solche authentischen Schüler in einer glücklichen Wiedergeburt auch nicht das ewige Paradies.

Auf der mittleren Ebene vermeiden authentische Schüler es, sich lediglich um die Befreiung von emotionalen Problemen zu bemühen, ohne dabei das Streben nach Freiheit von den wiederkehrenden Problemen unkontrollierter Wiedergeburt insgesamt mit einzubeziehen. Außerdem betrachten solche Schüler die Befreiung nicht als völlige Auslöschung ihrer Existenz, die ihnen jede Möglichkeit nähme, je wieder auf der Welt zu erscheinen, um anderen zu helfen.

Auf der fortgeschrittenen Ebene schließlich vermeiden authentische Schüler das Streben nach einer Erleuchtung, die nicht die Befreiung von den wiederkehrenden Problemen unkontrollierter Wiedergeburt beinhaltet. Außerdem betrachten solche Schüler die Erleuchtung nicht als eine Form von Allmächtigkeit, der die Kraft innewohnt, alle Wesen augenblicklich von ihren Problemen zu heilen.

Kurz gesagt, genauso wie nicht jeder, der in einem buddhistischen Zentrum lehrt, ein authentischer spiritueller Mentor ist, so ist auch nicht jeder, der in einem Zentrum studiert, ein authentischer Schüler. Der Ruf nach einer Klärung der Begriffe verlangt nach einer präzisen Verwendung sowohl des Begriffs Mentor oder Lehrer als auch des Begriffs Schüler. Die umfassende Umsetzung dieser Forderung erfordert, spirituell aufrichtig zu sein und nichts vorzutäuschen.

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