Beziehung zu einem spirituellen Lehrer in zwei Leben

Eine tiefe Beziehung zu einem spirituellen Meister kann die erhebendste und bedeutendste Verbindung im gesamten Leben einer Person sein. Sie kann auch die Quelle von Selbstbetrug, Leiden und spiritueller Verzweiflung sein. Alles hängt davon ab, dass man die Beziehung aktiv zu einer gesunden macht. Dies wiederum hängt ab von einer realistischen Haltung gegenüber der Qualifikation der eigenen Person und des Lehrers, gegenüber dem Ziel der Beziehung und gegenüber ihren Dynamiken und Grenzen.

Ich schrieb „Zwischen Freiheit und Unterwerfung: Chancen und Gefahran spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen“ (Berlin: Theseus Verlag, 2002) [Relating to a Spiritual Teacher: Building a Healthy Relationship. Ithaca: Snow Lion, 2000; reprint: Wise Teacher, Wise Student: Tibetan Approaches to a Healthy Relationship . Ithaca: Snow Lion, 2010] hauptsächlich weil ich so großen Nutzen aus den Beziehungen mit meinen Hauptlehrern – Tsenshap Serkong Rinpoche, Seine Heiligkeit der Dalai Lama und Geshe Ngawang Dhargye – gewonnen hatte und weil es mich traurig machte, dass so viele ehrliche spirituelle Sucher, die ich auf meinen Vortragsreisen um die Welt getroffen hatte, weniger gute Erfahrungen gemacht hatten. Viele von ihnen, die sexuellem, finanziellem oder Macht-Missbrauch begegnet waren, sahen sich als schuldlose Opfer. Da sie die Schuld ausschließlich den missbrauchenden Meistern zusprachen, distanzierten sie sich von allen spirituellen Mentoren und gelegentlich sogar vom spirituellen Pfad. Andere leugneten ihre ungesunden Verhältnisse und fanden, dass rechte „Hingabe an den Guru“ jede Verhaltensweise eines Meisters nicht nur rechtfertigt, sondern sogar heiligt – egal, wie destruktiv sie nach gewöhnlichen Maßstäben erscheinen mag. Beide extreme Verhaltensweisen hinderten die Schüler daran, den vollen Nutzen, den man aus einer gesunden Beziehung gewinnen kann, zu erhalten.

In Fällen, in denen die Schüler Westler sind und die Lehrer Tibeter, wird eine Problemquelle von kulturellen Missverständnissen gebildet, die zusammen mit der unrealistischen Erwartung auftreten, die andere Seite werde sich entsprechend der eigenen kulturellen Normen verhalten. Weitere Quellen der Verwirrung ergeben sich, wenn man die Darstellungen der Lehrer-Schüler-Beziehung in den Standardtexten aus ihrem ursprünglichen Kontext herausnimmt, sie wörtlich interpretiert und die Bedeutung der Fachbegriffe falsch versteht, was oft von fehlleitenden Übersetzungen verursacht wird.

Die Texte des Lam-rim (Stufenpfad) beispielsweise präsentieren die Beziehung als „Wurzel des Pfades“ und besprechen sie als ihr erstes Hauptthema. Die Bedeutung der Metapher ist allerdings, dass ein Baum seine Nahrung von seinen Wurzeln erhält, nicht, dass er aus einer Wurzel entspringt. Ein Baum entspringt aus einem Samen und Tsongkhapa nannte die Beziehung nicht „den Samen des Pfades“. Schließlich wurde die ursprüngliche Zuhörerschaft, an die sich dasLam-rim richtete, nicht von Anfängern gebildet. Sie bestand aus Mönchen und Nonnen, die zusammengekommen waren, um eine tantrische Übertragung zu empfangen und die zur Vorbereitung eine Wiederholung der Sutralehren brauchten. Für solche Personen, die sich durch vorangehendes Studieren und Praktizieren bereits im buddhistischen Pfad engagiert haben, ist ein gesundes Verhältnis mit einem spirituellen Meister die Wurzel, aus der sie die Inspiration gewinnen, die den vollständigen Pfad zur Erleuchtung stützt. Die Absicht war nie, dass neue Schüler in westlichen Dharmazentren ihre Dharmapraxis damit beginnen sollten, dass sie ihre spirituellen Lehrer als Buddhas sehen.

In meinem eigenen Fall überbrückt die tiefste Beziehung, die ich zu einem spirituellen Lehrer habe, zwei Lebenszeiten dieses Lehrers. Ich verbrachte neun Jahre als Schüler, Übersetzer, englischsprachiger Sekretär und Organisator der Auslandsreisen von Tsenshap Serkong Rinpoche, dem verstorbenen Meister-Debattierpartner und 3. Tutor Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. Rinpoche starb 1983, wurde genau neun Monate später wiedergeboren, im Alter von vier Jahren erkannt und nach Dharamsala zurückgebracht. Sowohl er als auch ich bestätigten unsere tiefe Verbindung in dem Augenblick, in dem wir uns einige Monate später trafen. Als er von einem Assistenten gefragt wurde, ob er wisse, wer ich war, antwortete der junge Tulku „Sei nicht albern. Natürlich weiß ich, wer er ist.“ Seitdem hat mich Rinpoche als ein enges Mitglied seines spirituellen Haushaltes behandelt – etwas, dass ein Vierjähriger nicht einfach vormachen kann. Ich wiederum hatte keine Zweifel an unserer tiefen Verbindung.

Im Sommer 2001 verbrachte ich einen Monat mit Rinpoche in Südindien in seinem Kloster, Ganden Jangtse, wo er im Alter von siebzehn Jahren bei einer Zeremonie, die seinen offiziellen Eintritt in die Reihen der Gelehrten markierte, vor den versammelten Mönchen debattierte. Während des Monats erhielt ich von ihm Belehrungen über den Stoff, den er in seiner Geshe-Ausbildung studierte und dolmetschte eine mündliche Überlieferung und die Erklärung eines Textes, den er einem anderen nahestehenden westlichen Schüler seines Vorgängers gab. Als ich Rinpoche sagte, wie wundervoll es sei, erneut für ihn zu dolmetschen, erwiderte er „Natürlich, das ist dein Karma.“ Ich führte auch den informellen Prozess fort, ihm zahlreiche Ratschläge, die er mir in seinem letzten Leben bezüglich des Dharma und weltlicher Angelegenheiten gegeben hatte, zurückzugeben.

Meine persönliche Beziehung zu Serkong Rinpoche über zwei Lebenszeiten hat mir mehr Vertrauen in denDharma und in die Wiedergeburt gegeben, als ich je durch bloßes Studium und Meditation hätte gewinnen können. Es ist wirklich eine Quelle anhaltender Inspiration auf dem Pfad. Weder er noch ich täuschen uns über unsere gegenseitigen Rollen in seinen beiden Leben. Wir sind weder vollkommen gleich noch vollkommen anders als diejenigen, die wir damals waren. Jeder von uns ist eine Kontinuität. Mit einem tiefen gegenseitigen Respekt, der auf einer realistischen Haltung gegenüber unseren verschiedenen Lebensstadien damals und heute basiert, lehrt und lernt nun jeder von uns problemlos vom anderen. Es fühlt sich vollkommen natürlich an.

Als ein Star Trek-Fan sehe ich diese Erfahrung so, als ob ich sowohl in der ursprünglichen Serie („Raumschiff Enterprise“) als auch in der „Next Generation“ ein Mitglied der Crew wäre, damals unter Captain Kirk und nun unter seiner Wiedergeburt als Captain Picard, der noch als junger Kadett seine Ausbildung absolviert. Die Hauptherausforderung vor der ich weiterhin stehe, ist, genügend positives Karma aufzubauen um in der Crew aller zukünftigen Raumschiffe „Enterprise“ dabei zu sein.

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