Das Leben Atishas

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Atishas Kindheit und sein Verzicht auf das Prinzenleben

Im Osten Indiens, im Lande Jahor, in der Stadt Bangala, im Palast der Tausend Fahnen, lebten König Kalyana der Gütige und Königin Prabhavati die Strahlende. Der königliche Palast wurde von dreizehn goldenen Dächern gekrönt, die sich aufeinander türmten, und war prächtig geschmückt mit 25.000 goldenen Bannern. Er war von unzähligen Parks, Teichen und atemberaubenden Gärten umgeben. Das Königreich war so reich wie die alten, opulenten chinesischen Dynastien.

Das königliche Paar hatte drei Söhne: Padmagarbha, Chandragarbha, und Shrigarbha. Es war der zweite Prinz, der zu Atisha (tib. Jo-bo rje dPal-ldan A-ti-sha) (982-1054), unserem erhabenen Lehrer, heranwachsen sollte.

Als Atisha achtzehn Monate alt war, gaben seine Eltern im örtlichen Tempel Kamalapuri seine erste öffentliche Audienz. Ohne irgendwelche Anweisung erhalten zu haben warf er sich vor den ehrwürdigen Tempelobjekten nieder und rezitierte spontan: „Aufgrund des Mitgefühls meiner Eltern habe ich ein wertvolles menschliches Leben erlangt, reich an Möglichkeiten, euch wunderbare Gestalten zu sehen. Ich werde in meinem Leben immer meine sichere Richtung (Zuflucht) zu euch nehmen.“ Als er seinen königlichen Untertanen vor dem Tempel vorgestellt wurde, betete er darum, dass er sein volles Potential verwirklichen möge, um all ihre Bedürfnisse zu stillen. Er betete auch darum, die Robe eines spirituell Suchenden, der auf das Familienleben verzichtet, anlegen zu können, nie stolz und immer voller Mitgefühl und liebender Sorge um die anderen zu sein. Für ein so junges Kind war dies höchst außergewöhnlich.

Während Atisha heranwuchs, verstärkte sich sein Wunsch, Bettelmönch zu werden, immer mehr. Doch seine Eltern hatten andere Vorstellungen: Atisha war der klügste ihrer drei Söhne und die verheißungsvollen Omen am Tag seiner Geburt hatten sie davon überzeugt, dass er der Thronnachfolger werden sollte. Als der Junge elf Jahre alt wurde, und damit nach damaligen Gepflogenheiten ins heiratsfähige Alter kam, trafen sie daher sorgfältige Hochzeitsvorbereitungen.

In der Nacht vor seiner Hochzeit hatte Atisha einen Traum, in dem ihm die Buddha-Gestalt (tib. Yidam) Tara mit großer Klarheit erschien. Sie sagte ihm, dass er in 500 aufeinanderfolgenden Leben immer ein Bettelmönch gewesen sei und dass er daher keinerlei Anziehung für die vergänglichen Vergnügungen dieser Welt verspüren solle. Eine gewöhnliche Person, erklärte sie ihm, die sich in diesen Vergnügungen verstricke, sei relativ leicht zu befreien, wie eine kleine Ziege, die in Treibsand geraten ist. Er dagegen, der ein königlicher Prinz sei, wäre so schwer daraus zu befreien wie ein Elefant aus dem Treibsand. Der Junge erzählte niemanden von diesem Traum, doch er gab geschickt andere Gründe vor, um der Hochzeit zu entgehen.

Atisha hatte den festen Entschluss gefasst, einen spirituellen Lehrer zu finden; doch seinen Eltern erzählte er, er wolle jagen gehen und verließ mit 130 Reitern den Palast. Im Dschungel traf als erstes den heiligen Jetari, einen Angehörigen der brahmanischen Priesterkaste, der als buddhistischer Einsiedler lebte. Von ihm nahm der Junge in formeller Weise die sichere Richtung im Leben (Zuflucht) und die Bodhisattva-Gelübde an. Darauf schickte ihn dieser heilige Mann in die abgeschiedene Klosteruniversität Nalanda, zum spirituellen Lehrer Bodhibhadra.

Atisha zog sofort mit all seinen Reitern los und erhielt, bei Bodhibhadra angekommen, von ihm noch einmal die Bodhisattva-Gelübde und erhielt die Bodhisattva-Lehren. Dann wurde er zur weiteren Ausbildung zum großen Vidyakokila und dann zum berühmten Avadhutipa geschickt. Letzterer riet dem Jungen, nach Hause zurückzukehren, alle respektvoll zu behandeln und doch zu versuchen, die Nachteile eines so luxuriösen Lebens zu sehen und dann wieder zu ihm zurückzukehren, um Bericht zu erstatten.

Atishas Eltern waren voller Freude ihn zu sehen und glaubten, dass er sich nun endlich niederlassen, eine Frau suchen und sich auf seine künftige Herrschaft vorbereiten würde. Doch der Junge erzählte ihnen, dass er in Wirklichkeit auf der Suche nach einem spirituellen Lehrer gewesen war, der ihm den richtigen Weg zeigen könnte. Er beichtete ihnen, dass sein einziger Wunsch darin bestehe, zu gehen und ein ruhiges, kontemplatives Leben zu führen und dass er zurückgekehrt sei um, die Erlaubnis einzuholen, seine Pflichten als Prinz niederzulegen.

Die Eltern waren schockiert über seine Worten und versuchten ihn vom Gehen abzubringen. Sie schlugen ihm vor, beide Lebensformen zu kombinieren: sie würden ihm nahe am Palast abgeschiedene Klöster bauen lassen, und er könnte studieren, den Armen Essen geben, und so weiter. Sie flehten ihn an, nicht in den Dschungel zurückzukehren. Doch Atisha erwiderte, dass er sich vom königlichen Leben überhaupt nicht angezogen fühle. „Dieser goldene Palast, “ sagte er, „ist für mich nichts anderes als ein Gefängnis. Die Prinzessin, die ihr mir anbietet, ist für mich nichts anderes als die Tochter der Dämonen, euer süßes Essen wie das vergammelte Fleisch eines Hundes und diese Satinkleider und Juwelen unterscheiden sich für mich nicht von Lumpen aus dem Müllhaufen. Ich bin entschlossen vom heutigen Tage an im Dschungel zu leben und zu Füßen des Lehrers Avadhutipa zu lernen. Ich bitte nur um etwas Milch, Honig und braunen Zucker, dann werde ich gehen.“

Seinen Eltern blieb nichts anderes übrig als seiner Bitte stattzugeben. So kehrte Atisha mit diesem Proviant sowie mit einer peinlich großen Entourage königlicher Diener, auf deren Begleitung die Eltern bestanden hatten, in den Dschungel zurück. Avadhutipa schickte den jungen Prinzen nun zum Meister Rahulagupta auf den Schwarzen Berg, um ihn in die Tantrapraxis einzuweihen. Atisha kam mit all seinen Reitern an und erzählte diesem Vajra-Lehrer, dass er es noch nicht geschafft hatte, seine Bindungen an das königliche Leben abzuschütteln, obwohl er schon bei vielen Meistern studiert hatte. Rahulagupta gab ihm seine erste Ermächtigung. Es handelte sich um die Praxis des Hevajra, einer Buddha-Gestalt, mit der er seinen Geist verbinden sollte. Dann schickte er ihn zurück in den Palast, wobei er ihn von acht seiner Schüler begleiten ließ. Es handelte sich um vier Männern und vier Frauen, die nur spärlich mit den Knochenornamenten der Mahasiddhas bekleidet waren, große Meister mit tatsächlichen Verwirklichungen.

Drei Monate lang blieben Atisha und seine merkwürdigen, neuen Gefährten in der Umgebung des Palastes, wobei sie sich in einer vollkommen unkonventionellen und schockierenden Weise verhielten. Am Ende waren seine Eltern gezwungen, all die Hoffnungen aufzugeben, die sie auf ihren wertvollen Sohn gesetzt hatten. Im Glauben, dass er verrückt geworden sei, erklärten sie sich restlos damit einverstanden, dass er mit seinen eher widerwärtig aussehenden Freunden ein und für alle Mal verschwinden sollte.

Studien in Indien und auf der Goldenen Insel

Atisha rannte sofort zu seinem Lehrer Avadhutipa zurück und studierte dann zwischen seinem einundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr intensiv die Auffassung des Mittleren Weges des Madhayamkas bezüglich der Realität. Während dieser Zeit studierte er bei vielen hoch verwirklichten Lehrern und wurde sehr erfahren in der Praxis sämtlicher Tantra-Systeme. Tatsächlich wurde er sogar ziemlich stolz auf seine Gelehrsamkeit und glaubte, sehr geschickt im Umgang mit diesen geheimen Methoden zum Schutz des Geistes zu sein und dass er all ihre Texte beherrsche. Doch dann hatte er die reine Vision einer Dakini – eines himmlischen Mädchens, deren Bewegungen unbehindert durch Ignoranz sind – die in ihren Armen viele Bücher über die nie endenden Ströme solcher Tantra-Systeme hielt. Sie sagte ihm, „In deinem Land gibt es bloß einige dieser Texte, doch in unserem Land gibt es so viele“. Danach war sein Stolz gedämpft.

Eines Tages beschloss er, zu gehen und all seine Energien auf die Tantrapraxis zu richten, um in diesem Leben sein höchstes Potential zu verwirklichen. Doch dann erschien ihm sein Vajra-Meister Rahulagupta in einem Traum und riet ihm, dies nicht zu tun und nicht alle zu verlassen. Er sollte vielmehr ein Bettelmönch werden. Auf diese Weise sollte er mit einer kontinuierlichen Praxis fortfahren und zu gegebener Zeit die vollkommene Erleuchtung erlangen. So erhielt Atisha im Alter von 29 Jahren, vom beständigen älteren Mönch Shilarakshita die Roben eines spirituell Suchenden, der das Familienleben aufgegeben hatte. Er erhielt den Namen Dipamkara Jnana: „Der, dessen tiefes Gewahrsein als Leuchte dient“.

Während der ersten zwölf Jahre nach seiner Ordination studierte Atisha an der Klosteruniversität Odantapuri beim großen Dharmarakshita, dem Autor des Werkes „Rad der scharfen Waffen , dem berühmten Lojong (tib. blo-sbyong, Geistestraining)-Text zur Reinigung unserer Geisteshaltungen. Sie konzentrierten sich auf alle Hinayana-Mittel, bzw. die Mittel die diejenigen mit einem bescheidenen Geist als Fahrzeug zur Befreiung nehmen können. Doch Atisha fühlte sich immer unbefriedigt. Er sehnte sich nach dem schnellsten Weg, sein höchstes Potential zu verwirklichen.

Sein Vajra-Lehrer sagte ihm: „Es spielt keine Rolle, wie viele reine Visionen du hast, du musst sich kümmernde Liebe lernen, Mitgefühl und eine Bodhichitta-Ausrichtung, die vollkommen dem Wohl der anderen und dem Erlangen der Erleuchtung gewidmet ist.“ Er riet ihm, sich aus ganzen Herzen der Buddha-Gestalt Avalokiteshvara hinzugeben, seinen Geist eng mit ihm zu verbinden und auf die Erleuchtung hinzuarbeiten, damit er alle am besten aus Samsara, der unkontrollierbar wiederkehrenden Existenz, befreien könnte. Erst wenn er dies erlangte, dann würde er sein volles Potential aktualisieren können.

Als Atisha in Vajrasana, dem „Vajras Sitz“, in der Nähe des heutigen Bodh Gaya, das große Stupa Reliquien-Monument umwandelte, das zur Ehre Buddhas erbaut worden war, hörte er, wie in einer Nische über seinem Kopf zwei Statuen miteinander flüsterten. Die eine fragte die andere, „Was solltest du üben, wenn du so schnell wie möglich die Erleuchtung erlangen möchtest?“ „Das vollkommen hingebungsvolle Herz des Bodhichitta“, lautete die Antwort. Und als Atisha die Kuppel umwandelte, wandte sich eine Statue Buddhas, der Alles Besiegende, Alles Übertreffende Meister, der, mit folgenden Worten an ihn: „Oh, Bettelmönch, wenn du dein volles Potential schnell verwirklichen möchtest, dann musst du dich in Liebe, Mitgefühl und Bodhichitta üben.“

In dieser Zeit war Dharmakirti (Dharmapala), der erhabene Meister von Suvarnadvipa, der Goldenen Insel, der berühmteste Lehrer, der die vollständigen Lehren zur Entwicklung von Bodhichitta hielt. Daher schiffte sich Atisha mit einer Gruppe von 125 erfahrenen Mönchen auf einem Handelsschiff ein, dass zur Goldenen Insel fuhr, dem heutigen Sumatra. Zu diesen Zeiten waren lange Reisen über den Ozean keine einfache Angelegenheit und sie hatten eine besonders schwierige Überfahrt bei denen sie Stürmen und Walfischen begegneten und sich verfuhren. Sie verbrachten dreizehn harte Monate auf See, doch Atisha verlor kein einziges Mal den Mut.

Als sie endlich in Sumatra landeten, ging Atisha nicht sofort zum berühmten Lehrer. Statt dessen verbrachte er volle zwei Wochen mit einer Gruppe von Dharmakirtis Schülern, um sie immer und immer wieder über ihren Lehrer auszufragen. Er bestand darauf, die gesamte Biographie Dharmakirti kennenzulernen. Dies zeigt uns wie wichtig es ist, spirituelle Meister gründlich zu begutachten und ihre Qualifikationen zu prüfen, bevor man bei ihr oder ihm zu lernen beginnt.

Währenddessen hatte Dharmakirti, der Erhabene Meister der Goldenen Insel erfahren, dass aus Indien der großen Gelehrte und seiner Bettelmönchsgefährten auf ihrer spirituellen Suche in Sumatra gelandet waren. So versammelte er seine eigene Mönchsgemeinschaft, um Atisha willkommenzuheissen. Als dieser eintraf, zelebrierten sie gemeinsam zahlreiche formelle Zeremonien für glücksverheißende Zukunft. Dharmarakirti schenkte Atisha auch eine Buddhastatue und prophezeite ihm, dass er eines Tages den Geist der Menschen des nördlichen Schneelandes zähmen würde.

Atisha blieb zwölf Jahre auf der Goldenen Insel und studierte eifrig mit diesem Lehrer. Zunächst studierte er das Werk Filigranschmuck der Verwirklichungen (tib. mNgon-rtogs rgyan, Skt. Abhisamayālaṃkāra). Bei diesem Text handelt es sich um die Richtlinien des Glorreichen Maitreya um die „Sutras des weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins“ (tib. Sher-phyin-gyi mdo, Skt. Prajñāpāramitā Sūtras) des Allwissenden zu ergründen. Dann erhielt er nach und nach die kompletten Lehren der „weitreichenden Verhaltensweisen“ aus der Linie von Maitreya und Asanga, sowie die Lehren der besonderen Linie über den Austausch der Selbstsucht mit der Sorge um andere, die der Bodhisattva Shantideva, ein spiritueller Sohn des Glorreichen, vom erhebenden, fehlerlosen Manjushri selbst empfangen hatte. Nachdem Atisha durch diese Methoden eine vollständige Verwirklichung der Bodhichitta-Ausrichtung erlangt hatte, kehrte er im Alter von fünfundvierzig Jahren nach Indien zurück und lebte dort überwiegend in der abgeschiedenen Klosteruniversität Vikramashila.

Insgesamt studierte Atisha bei 157 großen Lehrern. Doch für diesen herausragenden Lehrer der Goldenen Insel und für die Praktiken, die er ihn gelehrt hatte, hegte er eine so tiefe Ehrerbietung, dass ihm jedes Mal Tränen in die Augen stiegen, wenn er seinen Namen aussprach oder hörte. Als er später von seinen tibetischen Schülern gefragt wurde, ob diese Emotionen bedeuteten, dass er einen seiner Lehrer vor allen anderen bevorzuge, antwortete Atisha. „Ich treffe zwischen all meinen spirituellen Mentoren keine Unterscheidungen. Doch dank der Güte meines erhabenen Lehrers von der Goldenen Insel, habe ich geistigen Frieden und das hingebungsvoll Herz des Bodhichitta erlangt.“

Die Einladung Atishas nach Tibet

Nachdem Atisha nach Indien zurückgekehrt war, schützte und bewahrte er den heiligen Dharma des Glorreichen indem er drei Mal in formellen Debatten nichtbuddhistische Extremisten besiegte. Im Wirkungskreis des Buddhismus begründete Atisha, wo immer er reiste, viele Lehrzentren und wo immer er Anzeichen degenerierter oder uninformierter Praktiken erlebte, reformierte er diese sofort. Sein Ruhm verbreitete sich über ganz Indien. Wegen seines Mitgefühls und seiner Einsicht wurde er als das Kronjuwel der gelehrten Meister betrachtet. Die größte Wohltat jedoch erwies er dem Volk Tibets, dem Land des Schnees.

Das Buddhadharma war einige Jahrhunderte zuvor nach Tibet gelangt – hauptsächlich dank der Bemühungen des Guru Rinpoche Padmasambhava (tib. Gu-ru Rin-po-che Pad-ma ‘byung-gnas) und vielen anderen. Doch unter König Langdarma (tib. Glang-dar-ma) (863 – 906) wurde der Buddhismus unterdrückt und erlebte einen herben Rückschlag. Es überlebten nur wenige Praktizierende und ab diesem Zeitpunkt wurden viele Aspekte nicht mehr richtig verstanden. Viele glaubten, dass die Übung von Selbstdisziplin und Tantra sich gegenseitig ausschlössen und dass die Erleuchtung durch rauschhafte Zustände und verschiedene Formen sexuellen Fehlverhaltens erreicht werden könnte. Andere glaubten, dass die Hinayana- und Mahayana-Lehren gleichermaßen widersprüchlich seien und die einen zu Befreiung und die anderen zu Erleuchtung führten.

Traurig über diesen Verfall, wollte der tibetische König Yeshewo (tib. Ye-shes ‘od) unbedingt einen erfahrenen Lehrer aus einem der indischen Klosterzentren einladen, um diesen Zustand der Verwirrung, der in Tibet herrschte, ein Ende zu setzen. Da er von Atisha noch nichts gehört hatte, sandte er einundzwanzig junge Männer mit der allgemeinen Anweisung nach Indien, Sanskrit zu lernen und einen passenden Lehrer zu finden. Doch all diese Männer bis auf zwei starben aufgrund des heißen indischen Klimas. Diese beiden hatten zwar keinen Lehrer einladen können, aber die Sprache erlernt. Und so kehrten die neuen Übersetzer Rinchen-Zangpo (tib. Rin-chen bzang-po) (958 – 1051) und Legshe (tib. Legs-bshad) zum König zurück und informierten ihn über Atisha.

Sobald er seinen Namen hörte, beschloss der König, dass dieser Atisha genau die Person sei, die sie bräuchten. Er verschwendete keine Zeit und sandte eine zweite, neunköpfige Gruppe aus, die von Gyatsonseng (tib. rGya brtson-‘grus seng-ge) angeführt wurde und mit Gold beladen war, um diesen Lehrer einzuladen. Doch auch Gyatsonsengs acht Gefährten starben. Da er Atisha nicht nach Tibet bringen konnte, blieb er in Indien. Als Yeshewo vom Scheitern der Mission erfuhr, beschloss er, persönlich eine Expedition durch sein Land zu unternehmen um mehr Gold zu sammeln, damit er eine weitere Expedition nach Indien schicken könnte. Doch auf dieser Expedition wurde er an der nepalesischen Grenze von einem Rivalen, dem König von Garlog (tib. Gar-log, Qarluq), der eine Weiterverbreitung des Buddhismus in Tibet verhindern wollte, gefangen genommen.

Der König von Garlog lies König Yeshewos Neffen Jangchubwo informieren, dass er nur zwei Möglichkeiten hatte, seinen Onkel freizukaufen: entweder er hätte die Expedition nach Indien aufgeben müssen oder er hätte einen Goldhaufen aufbringen müssen, der so groß wie sein Onkel war. Obwohl der Neffe das ganze Königreich durchstreifte konnte, er nicht genügend Gold finden: die von ihm gesammelte Menge entsprach nur der Größe des Torsos und der Gliedmaßen des Königs; das restliche Gold in Größe seines Kopfes lies sich nicht aufbringen. Als der Herrscher von Garlog das vollständige Lösegeld forderte, bat der Neffe um die Erlaubnis, seinen Onkel zu sprechen.

Er wurde zu einer dunklen Gefängniszelle mit Eisenstäben geführt. Dort erläuterte er seinem Onkel, der in Ketten lag und sehr schwach war, die Situation und sagte, dass er weiter nach dem restlichen Gold suchen würde: „Gib die Hoffnung nicht auf,“ sagte er seinem Onkel, „ich werde das Lösegeld aufbringen. Ich könnte dem König von Garlog den Krieg erklären, doch dann würde es viele Tote geben. Es erscheint mir am besten, deine Freiheit zu erkaufen.“

„Mein lieber Neffe“, antwortete der gealterte König, „ich hätte nie ein solches Mitgefühl und eine solche Weisheit von dir erwartet. Ich freue mich, dass du das Schlechte an der Gewalt erkennst. Doch jetzt musst du mich vergessen. Benutze statt dessen das gesamte Gold, das du gesammelt hast, um den großen Lehrer Atisha nach Tibet einzuladen. Ich bin in vergangenen Leben unzählige Male gestorben, doch bin ich sicher, mich noch nie für den Dharma des Glorreichen geopfert zu haben und ich bin sehr glücklich darüber, dies nun tun zu können. Wen auch immer du nach Indien schickst, bitte lass ihn Atisha ausrichten, dass ich für das Wohl meiner Untertanen und des Dharma mein Leben gab, sodass er nach Tibet gebracht werden könnte. Auch wenn ich nicht das Glück hatte, ihn in diesem Leben kennen zu lernen habe ich die glühende Hoffnung, dies in Zukunft tun zu können.“ Der Neffe gehorchte dem Befehl seines Onkels und reiste, von Trauer überwältigt, ab.

Jangchubwo wurde nun König von Tibet. Er beschloss, dass die beste Person, die er auf diese dritte Mission schicken könnte, der Übersetzer Nagtso (tib. Nag-mtsho Lo-tsa-ba) sei, der schon mehrere Male in Indien gewesen war. Der neue König lud ihn in den Palast ein, bestand darauf, dass er auf dem Thron Platz nahm und bat ihn inständig, „ Mein Onkel starb, damit Atisha nach Tibet eingeladen werden kann. Wird sein Wunsch nicht erfüllt, so werden die mit Problemen belasteten Menschen dieses Landes sicherlich schreckliche Wiedergeburten erleben. Ich flehe dich an, diese unglücklichen Wesen zu retten.“ Dann brach der junge König weinend zusammen. Nagtso hatte keine andere Wahl als dieser Bitte nachzukommen und sich den Schwierigkeiten einer weiteren Reise nach Indien zu stellen.

Der Übersetzer reiste mit 700 Goldmünzen und sechs Gefährten ab. Der König begleitete sie mehrere Tage lang und erinnerte Nagtso, kurz bevor er ging, daran, Atisha zu sagen: „Dies ist das letzte Gold in Tibet und mein Onkel war der Letzte der großen Männer Tibets. Wenn Atisha auch nur eine Unze Mitgefühl für andere hat, dann muss er kommen. Wenn wir, die Barbaren von Tibet, den Dharma derart hochachten und er dagegen nicht, dann ist der Buddhismus tatsächlich schwach geworden und es gibt keine Hoffnung!“ Dann kehrte der König in seinen Palast zurück.

Auf ihrem Weg nach Indien traf die Delegation einen Jungen, der nach dem Grund ihrer Reise fragte. Als er ihn erfuhr, war er sehr erfreut und sagte, „Eure Mission wird erfolgreich sein, wenn ihr immer dieses Gebet aufsagt: ‚Ich verbeuge und nehme sichere Ausrichtung durch Avalokiteshvara. Ich bitte darum, dass das Dharma des Glorreichen in Tibet aufblühen möge.“ Als er gefragt wurde, wer er sei, antwortete der Junge, dass sie dies zu gegebener Zeit erfahren würden.

Schließlich erreichte die Delegation spät in der Nacht die abgelegene Klosteruniversität Vikramashila und kampierte vor deren Toren.. In einem Zimmer oberhalb lebte Gyatsonseng, der Tibeter, der König Yeshewos zweite Mission angeführt hatte. Als er Menschen in seiner Muttersprache sprechen hörte, schaute er überrascht nach unten und als er die Truppe sah, fragte er sie nach dem Grund ihres Kommens. Aufgeregt erzählten die Tibeter ihre Geschichte und fügten sogar hinzu, dass der eigentlich Grund ihrer Reise darin bestand, Atisha nach Tibet zurück zu bringen. Gyatsonseng riet ihnen, ihr Ziel nicht so offen zu enthüllen. Er riet ihnen, ihr Gold beim wachhabenden Jungen an der Pforte zu lassen und am nächsten Morgen wiederzukommen, um ihn zu treffen. Dies taten sie und der kleine Junge empfahl ihnen zu ruhen und ihm zu vertrauen.

Früh am nächsten Morgen weckte sie der Junge und fragte nach dem Grund ihres Kommens. Als sie ihm alles erzählten, sagte der Junge verärgert, „Ihr Tibeter redet zu viel! Ihr müsst das für euch behalten. Ansonsten wird es viele Hindernisse geben. Wichtige Dinge sollten nie in Eile erledigt werden, sondern immer langsam, vorsichtig und im Geheimen.“ Dann gab er ihnen ihre Goldmünzen zurück und führte sie in die riesige Klosteranlage.

Die Gruppe traf einen alten Mann, der sie grüßte und fragte, woher sie kämen und weshalb sie gekommen seien. Die Tibeter machten wieder keinerlei Anstrengungen, irgendetwas zu verbergen und der alte Mann rügte sie: „Wenn ihr weiterhin so indiskret seid, dann werdet ihr euer Ziel nie erreichen. Erzählt nur Atisha von eurer Mission.“ Dann bot er ihnen an, ihnen Gyatsonsengs Zimmer zu zeigen. Obwohl er sich auf einen Stock stützte und langsam dahinzuhumpeln schien, konnte niemand mit ihm Schritt halten. Denn wie der kleine Junge zuvor, war auch er nur eine Emanation des Avalokiteshvara, der über ihre Expedition wachte.

Nun entschlossen sich die Tibeter zu einem Aktionsplan. Gyatsonseng riet ihnen vorzugeben, dass sie gekommen seien, um Sanskrit zu lernen. „Unser leitender Abt, der Älteste Ratnakara, ist Atishas Vorgesetzter und schätzt ihn sehr. Wenn er von euerem wahren Ziel Wind bekommt, dann wird er dafür sorgen, dass ihr Atisha noch nicht einmal sehen werdet!“

Am nächsten Morgen sprach die Gruppe beim Abt vor und überreichte ihm die Hälfte ihrer Goldmünzen. Sie sagten, dass viele ihrer Landsmänner in der Vergangenheit nach Indien gekommen seien, um so weise Lehrer wie Atisha nach Tibet einzuladen. Sie dagegen seien gekommen, um hier zu studieren und um selbst Gelehrte zu werden. Der ehrenhafte Älteste war sehr erleichtert und sagte, „ Ja, macht das auf jeden Fall. Bitte missversteht mich nicht. Es ist nicht so, dass ich kein Mitgefühl mit Tibet hätte, doch Atisha ist einer unserer am höchsten verwirklichten Lehrer, vor allem in Bezug auf Bodhichitta. Wenn er nicht in Indien bleibt, dann gibt es keine Hoffnungen mehr dafür, dass die Lehren Buddhas in ihrem Heimatland erhalten bleiben.“ Dennoch hatte der Abt sein starkes Misstrauen den Fremden gegenüber nur teilweise abgelegt und so verhinderte er, dass sie Atisha trafen.

Die Tibeter waren überzeugt, dass ihre Finte funktioniert hatte. Sie begannen am Unterricht teilzunehmen und warteten den richtigen Zeitpunkt ab. Nach mehreren Monaten fand eine wichtige Klosterzeremonie statt, an der alle teilnehmen sollten; die Tibeter hofften daher, wenigsten endlich einen Blick von Atisha erhaschen zu können. Während sie warteten und Ausschau hielten traten viele große Meister ein. Einige, wie der große Naropa, kamen inmitten eines riesigen Gefolges. Anderen gingen Helfer voran, die Blumen und Weihrauch trugen. Endlich trat Atisha ein. Er war mit alten, zerlumpten Roben bekleidet und die Kapellen- und Lagerhausschlüssel baumelten von seinem Gürtel. Die Tibeter waren tief enttäuscht von seiner unbeeindruckenden Erscheinung. Sie fragten Gyatsonseng, ob sie statt Atisha nicht einen der anderen, glamouröseren Lehrer hätten einladen können. Gyatsonseng erwiederte: „Nein, Atisha hat eine sehr starke Verbindung zu Tibet und trotz seiner Erscheinung ist er derjenige, den ihr mitnehmen müsst.“

Schließlich konnte ein geheimes Treffen organisiert werden. Nagtso überreichte Atisha die Goldmünzen, die sie auf einem Mandala-Opferteller hoch aufgestapelt hatten, und erzählte ihm, wie der heilige Dharmas in Tibet degeneriert war. Nagtso erzählte ihm, wie König Yeshewo sein Leben geopfert hatte und was Onkel und Neffe gesagt hatten. Dann bat Nagtso Atisha, sie zu begleiten.

Atisha dankte ihnen für ihre große Freundlichkeit und sagte, dass er keinen Zweifel daran habe, dass diese tibetischen Könige in Wirklichkeit Bodhisattvas waren. Er sei sich ihrer Schwierigkeiten bewusst und respektiere den König aufrichtig für sein Opfer. Doch sie sollten versuchen, seine Lage zu verstehen: er sei in die Jahre gekommen und als Lagerhausverwalter des Klosters habe er viele Verpflichtungen. Er wünsche sich, dass es möglich wäre, sie zu begleiten und gab ihnen ihr Gold für die Heimreise zurück. „Unterdessen,“ sagte er, „muss ich mich mit meinem persönlichem Yidam beraten.“

In dieser Nacht erschien Tara Atisha in einer reinen Vision. Sie sagte ihm, dass seine Reise ein voller Erfolg sein würde. Er würde den Tibetern große Nutzen bringen und würde unter ihnen einen Schüler finden, der eine besonders starke Bindung zu ihm haben würde. Dieser Schüler würde ein upasaka, ein Laie, sein und er würde das Dharma sogar noch weiter verbreiten. „Aber wenn du in Indien bleibst,“ sagte sie, „wirst du 92 Jahre alt werden; gehst du dagegen nach Tibet, dann wirst du lediglich 72 Jahre alt.“ Atisha war nun davon überzeugt, dass es richtig sei, mit den Tibetern zu gehen und dass 20 Jahre seines Lebens es wert waren, geopfert zu werden, wenn er dadurch den anderen wahrhaftig nutzen konnte. Er musste nun den Weg finden, um von seinem scharfsinnigen Abt eine Abreisegenehmigung zu erhalten.

Zunächst bat er um die Erlaubnis, Pilgerreisen in den Osten, Süden und Westen Vikramashilas zu machen. Dies wurde ihm gewährt und er besuchte dort einige heilige Stätten. Dann bat er um die Genehmigung, eine ähnliche Reise in den Norden zu machen. Doch der Ältere Mönch erahnte seine verborgenen Motive und lehnte diesen Wunsch ab.

Die tibetische Delegation stürzte in tiefe Verzweiflung und kam zum Schluss, dass die einzige Hoffnung darin bestand, dem Abt die ganze Wahrheit zu erzählen. Der gefestigte ältere Mönch gab vor, verärgert zu sein. Die Tibeter fielen sofort auf ihre Knie und baten um Verzeihung. „Die Gründe, weshalb ich euch Atisha nicht geben möchte, sind dieselben wie zuvor,“ sprach der Abt, „ doch da die Not Tibets so groß ist, bin ich bereit, ihn für drei Jahre in eurem Land bleiben zu lassen. Ihr müsst jedoch versprechen, ihn nach dieser Zeit nach Indien zurückzuschicken.“ Von Freude überwältigt, gaben die Tibeter hierfür ihr Wort.

Der Dharma wird in Tibet reformiert und wiederbelebt

So begann Atisha im Alter von 53 Jahren die lange Reise ins Land des Schnees. Auf dem Weg Reise wurde der Übersetzer Gyatsonseng krank und starb. Voller Trauer sagte Atisha, „Nun wurde meine Zunge herausgeschnitten!“ Nagtso verbeugte sich demütig vor im und sprach, „Bitte sorge dich nicht. Auch wenn mein Sanskrit nicht perfekt ist, wird es sich sicherlich verbessern. Es gibt auch andere, die dir vielleicht dienen können.“

In Nepal trafen sie den großen, Augen öffnenden Übersetzer Marpa (tib. Mar-pa Lo-tsa-ba) (1012 – 1099), der sich auf seiner dritten Reise nach Indien befand. Atisha lud ihn ein, sein Dolmetscher zu werden, doch Marpa entschuldigte sich mit den Worten, „Es war der Wunsch meines Lehrers, dass ich Indien drei Mal besuche. Nun muss ich diese letzte Reise vollenden.“ Sie trafen auch den gealterten Übersetzer Rinchen-Zangpo, doch auch er konnte ihnen nicht helfen. „Wie ihr an dem weißen Haar auf meinem Kopf erkennen könnt,“ sagte er, „bin ich sehr alt. Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, ohne die Gelegenheit zu haben, intensiv zu üben.“ So reiste Atisha weiter und war gezwungen, sich auf Nagtsos beschränkte Fähigkeiten zu verlassen.

Nach einer zweijährigen Reise erreichte die Gruppe schließlich im Oberen Tibet (tib. sTod, westliches Tibet) die Stadt Ngari (tib. mNga’-ri), die Hauptstadt des Reiches von König Yeshewo. Sowohl die Laien als die Mönche veranstalteten eine große Prozession und luden Atisha dazu ein, im nahe gelegenen, zurückgezogenen Kloster zu bleiben. Der indische Lehrer war außer sich vor Freude über diese Begeisterung für die Lehren des Glorreichen und war sehr überrascht über die große Zahl von Menschen, die die Roben der spirituell Suchenden trugen. Es kamen viele Gelehrte aus ganz Tibet. Er war so beeindruckt über die Tiefgründigkeit ihrer Fragen über die Sutras und Tantras des Weisen Buddhas, dass er sich fragte, weshalb sie überhaupt so viele Umstände auf sich genommen hatten, um ihn einzuladen, wenn sie doch selbst so viele weise Lehrer hatten. Als er sie jedoch im Gegenzug fragte, wie die Gruppe von präventiven Maßnahmen ein einheitliches Ganzes bildeten, konnten sie ihm keine Antwort geben. Jetzt kannte Atisha den Zweck seiner Mission.

Eines Tages bat König Jangchubwo um eine Lehre für das tibetische Volk. „Wir möchten jedoch keine Lehre über Maßnahmen, die so weitreichend und tiefgründig sind, dass wir sie nicht annehmen können,“ sagte er. „Was wir brauchen, ist etwas, das unseren Geist zähmen wird und uns hilft, mit unserem alltäglichen, impulsiven Verhalten (Karma) und seinen Konsequenzen umzugehen. Bitte lehre uns die Maßnahmen, die du selbst anwendest.“

Atisha war so bezaubert von der Einfachheit und Ehrlichkeit der königlichen Bitte, dass er ihn später seinen „exzellenten Schüler“ nennen sollte. Wenn man ihn nach fortgeschrittenen Ermächtigungen in Systeme tantrischer Gottheiten oder nach Praktiken, durch die man besondere Kräfte erlangen kann, gebeten hätte, dann wäre er weitaus weniger erfreut gewesen. So verbrachte er drei Jahre in Ngari und hielt Vorlesungen, die später in „Eine Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ (tib. Byang-chub lam-gyi sgron-ma, Skt. Bodhipathapradīpa) zusammengefasst wurden, dem Prototypen aller zukünftigen Texte über dieses Thema.

Die Punkte, die Atisha in seinen Darlegungen immer wieder betonte, erbrachten ihm die Spitznamen „Erhabener Lehrer der sicheren Ausrichtung (Lama-Zuflucht)“ und „Erhabener Lehrer des impulsiven Verhaltens und seiner Resultaten (Lama Ursache und Wirkung).“ Er war sehr erfreut darüber und sagte, „Selbst das Hören solcher Namen könnte sich als nützlich erweisen.“

Während dieser Zeit hielt Atisha Ausschau nach seinem zukünftig bedeutendsten Schüler – nach dem tibetischen Laien, der ihm von der erhebenden, unfehlbaren Tara prophezeit worden war. Er war jedoch noch nicht aufgetaucht. Eines Tages wurde der Inder zum Mittagessen in das Haus eines Förderers eingeladen. Da er ein strenger Vegetarier war, wurde ihm ein traditioneller gerösteter Gerstenkuchen (tib. tsampa) serviert. Als Atisha ging, bat er, dass man ihm einige zusätzliche Stücke Kuchen und Butter einpacken möge. Genau in diesem Moment erreichte der verehrte Drömtönpa (tib. ‘Brom-ston rGyal-ba’i ‘byung-gnas) (1004 – 1064), der lang erwartete Laie, Atishas Haus. Er fragte Atishas Diener: „Wo ist mein erhabener Mahayana-Guru?“ Sie antworteten, „ Atisha isst bei seinem Förderer zu Mittag. Wenn du hier wartest, wird er bald zurückkommen.“

Doch Drömtönpa konnte nicht warten. Stattdessen lief er schnell zum Haus des Förderers. Auf dem Weg dorthin trafen sich Atisha und Drömtönpa. Obwohl sie sich nie zuvor gesehen hatten, erkannten sie sich aufgrund ihres Bandes aus früheren Leben sofort. Drömtönpa warf sich nieder. Atisha reichte ihm den Gerstenkuchen und sagte: „Hier ist dein Mittagessen. Du musst sehr hungrig sein.“ Der Laie aß den Kuchen und nutzte die Butter, um eine Butterlampe zu bauen, die er seinem gerade gefundenen spirituellen Meister darbrachte. Von diesem Zeitpunkt an brachte er ihm jede Nacht, ohne Ausnahmen, eine solche Lampe dar.

Nachdem Atisha drei Jahre in Ngari verbracht hatte machte er sich mit seinem Übersetzer Nagtso auf, um nach Indien zurückzukehren. Doch ein Krieg an der nepalesischen Grenze verhinderte ihre Rückkehr. Nagtso wurde sehr ängstlich, da es nun unmöglich schien, das Versprechen, das er dem Abt von Vikramashila gegeben hatte, einzulösen. Atisha nahm ihm sofort seine Ängste, als er ihm sagte, „ Es ist sinnlos, sich Sorgen über eine Situation zu machen, die jenseits deiner Kontrolle liegt.“

Zutiefst erleichtert schrieb Nagtso dem Abt einen Brief und erklärte, wie ihre guten Vorsätze zerstört worden waren. Als Teil einer Wiedergutmachung seiner Abwesenheit, schickte Atisha eine Abschrift von „Eine Lampe auf dem Pfad der Erleuchtung“ mit. Er bat auch um die Erlaubnis, den Rest seines Lebens in Tibet verbringen zu dürfen. Dann kehrten sie nach Ngari zurück.

Heutzutage wird die Frage, ob ein Buch veröffentlicht wird, durch relativ einfache kommerzielle Erwägungen geregelt. Zu Atishas Zeiten dagegen musste ein Manuskript vor dem Druck einer strengen Prüfung durch ein Gelehrtenkomitee unter der Leitung des örtlichen Königs unterzogen werden. Wenn ein Werk als mangelhaft befunden wurde, dann wurde es an den Schwanz eines Hundes gebunden und durch den Dreck gezogen. Statt Lob und Ruhm zu ernten verlor der Autor damit auf schamvolle Weise seinen Ruf.

Atishas Text wurde einer solchen Prüfung unterzogen und das Komitee befand es einstimmig als äußerst wertvoll. Der amtierende König war sogar so bewegt, dass er anmerkte, dass dieses Buch nicht nur den ignoranten Tibetern, sondern auch den scharfsinnigen Indern nutzen würde. Als der Abt von Vikramashila den Text las, schrieb er dem Übersetzer Nagtso, „Ich hege keine Einwände mehr gegen den Verbleib Atishas in Tibet. Was er schrieb, hat uns allen genutzt. Ich bitte lediglich darum, dass er nun seinen eigenen Kommentar dazu verfasst und ihn uns schickt.“ So kam es, dass Atishas eigene Erklärungen zu schwierigen Punkten dieses wichtigen Textes (tib. Byang-chub lam-gyi sgron-ma’i dka’-‘grel) geschrieben wurden.

Bald darauf lud Drömtönpa Atisha dazu ein, weiter in den Norden, nach Zentraltibet (tib. dBus) zu reisen und Lhasa zu besuchen. Auf dem Weg hielten sie in Samye (tib. bSam-yas), dem Kloster, das als erstes in Tibet gebaut worden war. Atisha war sehr beeindruckt von den Sammlungen auf Sanskrit und in tibetischer Sprache, die sich in der Bibliothek befanden. Er äußerte die Vermutung, dass es sogar in Indien zu dieser Zeit nicht so viele buddhistische Sanskrittexte gab.

Insgesamt verbrachte Atisha siebzehn Jahre im Land des Schnees, davon drei in Ngari, neun in Nyetang (tib. sNye-thang) bei Lhasa und fünf in unterschiedlichen Orten bis zu seinem Tod, der, wie von Tara prophezeitem, im Alter von 72 Jahren eintrat. Atishas Körper wurde einbalsamiert und in Nyetang als Heiligtum bewahrt. Siebzehn Jahre später (1071) gründete der ehrenhafte Drömtönpa das abgeschiedene Radreng-Kloster (tib. Rva-sgreng rGyal-ba’i dben-gnas), das wichtigste Zentrum der Kadampa-Tradition, die die Linien seines Meisters weitergab.

Der Übersetzer Nagtso erinnerte sich , dass Atisha in den zahlreichen Jahren, die sie zusammen verbrachten, kein einziges Mal etwas Unerfreuliches gesagt oder getan habe. Indem er den integrierten Pfad von Sutra und Tantralehrte, vollbrachte der indische Meister die Aufgabe, den vollständigen Dharma des Glorreichen in Tibet zu reformieren und wiederzubeleben. Tatsächlich ist es nur seiner Güte zu verdanken, wenn diese heiligen Maßnahmen bis heute in ihrer ursprünglichen Form überlebten.

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